Polens EU-Beitritt : Polen ist zurück in Europa
Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine wird die Europäische Union 20 Jahre nach der Osterweiterung als Sicherheitsgarant gesehen.
Vor 20 Jahren stieg die Zahl der EU-Mitglieder von 15 auf 25 Staaten. Die Teilung Europas war beendet.
Unvergessen bleibt bis heute der Handschlag von Joschka Fischer und Wlodzimierz Cimoszewicz mitten auf der Oder-Brücke zwischen Frankfurt und Slubice kurz nach Mitternacht am 1. Mai 2004. Die Grenze war extra für den Festtag aufgemacht worden. Schengen gab es damals zwischen Deutschland und Frankreich, aber nicht im Osten, man kann sich das heute kaum mehr vorstellen. Immerhin, für die Polen dauerte es nur knapp über zweieinhalb Jahre, und dann waren auch sie bei Schengen dabei. Ein Schritt, auf den die 2007 der EU beigetretenen Staaten Bulgarien und Rumänien noch immer warten.
Außenminister treffen sich in Frankfurt und dem polnischen Slubice
Zurück zur Oderbrücke, dem wohl besten Symbol der bilateralen Annäherung. Auch zum 20. Jahrestag der EU-Osterweiterung wollen sich die Außenminister Polens und Deutschlands, Radoslaw Sikorski und Annalena Baerbook, wieder in Frankfurt und dem polnischen Slubice, einst die Vorstadt Frankfurts auf der östlichen Oderseite, treffen. Genaueres ist dazu noch nicht bekannt, wohl aber die erneute Beflaggung der Brücke, ein Oldtimer-Treffen, ein Konzert mit polnischen und deutschen Bands und ein offizieller Auftakt im Collegium Polonicum der Europa-Universität Viadrina. Die mit EU-Geldern geförderte binationale Universität ist ein weiteres Zeichen der guten Nachbarschaft. Dieser Zusammenhalt über die einstigen Grenzen hinweg ist in Zeiten des russischen Angriffskriegs auf Polens östlichen Nachbarn Ukraine umso wichtiger. Heute ist es diese Zeitenwende vom 22. Februar 2022, die die EU-Osterweiterung in ein komplett neues Licht rückt.
Doch dies soll nicht vom Feiern ablenken, denn zu feiern gibt es gerade in Polen einiges. Unglaublich viel hat sich dort in den letzten 20 Jahren bei der Infrastruktur verändert. Eine Autofahrt vom Wirtschaftsforum im Kurort Krynica-Zdroj an der Grenze zur Slowakei im Herbst 2004 zurück in die Hauptstadt Warschau soll als Beispiel herhalten: Die Fahrt führte elf Stunden lang über Landstraßen durch unzählige Dörfer, und wenn es auch kaum mehr Pferdekutschen gab - während die Zeitungen Artikel aus Polen immer noch damit aus dem Fotoarchiv bebilderten -, so musste man doch auf Katzen und Gänse auf der Fahrbahn achten. Heute dauert die Fahrt über die gut ausgebaute E77 nur noch halb so lange.
Wie Polen zu einem Wirtschaftsmotor der EU wurde
Am eindrücklichsten ist Polens Wirtschaftsleistung. Georgiens Ex-Präsident Michail Saakaschwili erinnerte gerne daran, wie er als Student 1991 in seinem Rucksack Büchsenfleisch nach Polen brachte. Der Georgier studierte in Kiew, und Polens Bruttoinlandsprodukt war damals pro Kopf mit rund 1.700 Dollar knapp über dem Niveau der Ukraine. 20 Jahre später ist Polen zu einem Wirtschaftsmotor der gesamten EU geworden. Der Internationale Währungsfonds rechnet für 2024 mit über 23.400 Dollar pro Kopf (umgerechnet rund 21.900 Euro) in Polen; die kriegsversehrte Ukraine dürfte zum Jahresende fast fünfmal tiefer liegen. Polen ist heute Deutschlands fünftwichtigster Wirtschaftspartner, gleich nach China und vor Italien, Deutschland für Polen gar der Wichtigste.
Zur großen Erfolgsgeschichte hat sich das große Sorgenkind bei den EU-Beitrittsverhandlungen, die polnische Landwirtschaft, entwickelt. Milch, Gemüse, Beeren und auch Honig aus Polen sind beliebte Exportprodukte. Auf vielen polnischen Bauernhöfen stehen heute teure Landmaschinen. Nicht mehr die angeblich ungerechtfertigt geringeren Brüsseler Direktzahlungen treiben heute Polens Landwirte um, sondern gleiche Themen wie ihre westlichen EU-Kollegen: die Bürokratisierung der Produktion und die Pläne der EU-Kommission zum Green-Deal.
Protestierende Landwirte: Vorgeschmack auf die nächste EU-Osterweiterungs-Runde
Dazu kommt für Polen mit seinen neun Grenzübergängen in die Ukraine die Angst vor einer Überschwemmung mit billigerem ukrainischen Getreide und Mais. Dass dafür findige Händler die Mitschuld tragen, interessiert die Polen nicht. Seit Monaten werden immer wieder Grenzübergänge blockiert; de facto pro-russische Parteien wie die rechts-extreme "Konföderation", neuerdings Koalitionspartner von Jaroslaw Kaczynskis PiS auf lokaler Ebene, unterstützen die wütenden Landwirte. Diese Proteste sind ein Vorgeschmack auf die nächste EU-Osterweiterungs-Runde um die Republik Moldau und die Ukraine. Polen würde damit voraussichtlich auch zum EU-Nettozahler. Politisch von allen Parteien außer der "Konföderation" unterstützt, würde ein EU-Beitritt der Ukraine Polens Position noch einmal radikal verändern.
Bundeskanzler Olaf Scholz (l) empfängt Mitte März den französischen Präsidenten Emmanuel Macron (r) und Polens Premier Donald Tusk zu einem gemeinsamen Treffen des Weimarer Dreiecks in Berlin.
Spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist Polen nicht nur ideell, politisch und wirtschaftlich zur Brücke nach Osten geworden, sondern über den Flughafen von Rzeszow werden für Nato und auch EU lebenswichtige Waffen in die Ukraine geliefert. Die europäische und transatlantische Rolle Polens hat damit enorm zugenommen. Mit der erklärten Rückkehr Warschaus als neuerdings wieder konstruktives EU-Mitglied nach dem Regierungswechsel kurz vor der Jahreswende 2023/2024 nimmt Polens Einfluss nur weiter zu.
Wiederbelebtes Weimarer Dreieck ist nur der erste Schritt
Experten gehen davon aus, dass sich auch das Zentrum der EU von der Linie Paris-Berlin Richtung Osten verlagern wird. Außenpolitiker wie Radoslaw Sikorski werden darauf drängen. Die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks, bestehend aus Frankreich, Polen und Deutschland, ist für Warschau nur ein erster Schritt. Dass auf diesem Wege die Garantie von Rechtsstaat und Minderheitenrechten nach acht Jahren EU-kritischer Herrschaft der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) nicht schadet, versteht sich von selbst.
Doch wie kritisch man die beiden Kaczynski-Regierungen von 2005 bis 2007 und 2015 bis 2023 auch sehen mag, eines muss man PiS anrechnen: Die Partei hat mit ihrer Ja-Empfehlung beim Referendum von 2003 wesentlich zu dem damals sehr guten Ergebnis von 77 Prozent für den EU-Beitritt beigetragen. Und: Seitdem ist die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft in der polnischen Bevölkerung nie mehr unter 80 Prozent gefallen. Dem tut übrigens auch keinen Abbruch, dass just zum 20. Beitrittsjubiläum nur 27 Prozent der Polen sich den Euro statt die Landeswährung Zloty wünschen.
Der Autor ist freier Korrespondent in Polen und lebt in Warschau.