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Ulrich Lechte im Interview : "Sind auf einem gutem Kurs"

Für FDP-Außenpolitiker Ulrich Lechte ist klar, dass die Westbalkanstaaten vor der Ukraine Vollmitglieder der Europäischen Union werden.

27.06.2022
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5 Min

Herr Lechte, noch nie hat die EU ein Land im Krieg zum Beitrittskandidaten gemacht und noch nie ging das in einem solchen Tempo wie jetzt bei der Ukraine. Warum diese Eile?

Ulrich Lechte: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar war eine Zäsur für die europäische Sicherheitsarchitektur. Sie ist für Europa ähnlich einschneidend wie für die USA der 11. September 2001. Die Europäische Union muss jetzt gegenüber der Ukraine, die gerade einen hohen Blutzoll für Verteidigung unserer Werte zahlt, klar bekennen: Ihr gehört zu uns. Dass Staaten wie Österreich, die Niederlande und Bulgarien ihre zum Teil jahrelangen Widerstände gegen einen EU-Beitritt endlich aufgegeben haben, ist ein wichtiges und notwendiges Signal der Geschlossenheit gegenüber Moskau.

Foto: Deutscher Bundestag/Tobias Koch

Ulrich Lechte (FDP) sitzt seit 2017 im Bundestag und ist dort außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion.

Nun ist der Kandidatenstatus noch lange kein Garant für eine tatsächliche Aufnahme in die EU, wie etwa Serbien, Montenegro und Nordmazedonien zeigen. Auch finanzielle Zusagen sind damit nicht verbunden. Ist der Kandidatenstatus am Ende ein leeres Versprechen, reine Symbolpolitik?

Ulrich Lechte: Es ist alles andere als das. Eines der Kriegsziele von Russlands Präsident Wladimir Putin war es, dass mindestens die Neutralität der Ukraine gewahrt bleibt. Die EU hat deutlich gemacht, dass sie sich auf dieses Spiel nicht einlässt. Für sie liegt die Erweiterung außerdem im ureigenen Interesse. Angesichts der Dominanz Chinas und der aggressiven Politik Russlands ist es überlebensnotwendig für die EU, ihr Wertesystem auszudehnen und zu verteidigen.

Ein Beitritt ist an zahlreiche Bedingungen geknüpft. Als Hürden für die Ukraine gelten vor allem die mangelnde Rechtsstaatlichkeit und die starke Korruption. Wie lange wird es dauern, bis die Verhandlungen tatsächlich starten können und die Ukraine Mitglied wird?

Ulrich Lechte: Da sprechen wir sicherlich von mehreren Jahren. Klar ist auch, dass die Ukraine nicht über Nacht Teil der EU werden kann, während andere Staaten sich seit Jahren darum bemühen. Die Kopenhagener Kriterien für eine Aufnahme müssen auf jeden Fall auch für die Ukraine gelten. Das Land hat aber seit seinem Bestehen einen sehr dynamischen Prozess durchgemacht, es strebt anders als etwa Serbien seit Jahren klar in Richtung Westen. Das sind gute Voraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen.

Der laufende Krieg hat viel Infrastruktur und wichtige Agrarflächen zerstört. Die Staatsverschuldung ist massiv angewachsen, die Wirtschaft stark geschrumpft. Wie sehr belastet das zukünftige Beitrittsverhandlungen?

Ulrich Lechte: Wenn es immer nur nach der Wirtschaftskraft eines Landes gegangen wäre, hätten wir die Union über die Europäische Gemeinschaft hinaus nicht erweitern können. Wir haben aber gesehen, wie gut sich neue Mitglieder innerhalb der EU entwickelt haben. Jetzt sehen wir, wie wichtig die Ukraine für die Nahrungsversorgung der Welt ist. Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine politische Gemeinschaft, und jedes neue Mitglied kann dazu einen Beitrag leisten. Ungeachtet dessen wird die EU sich in den kommenden Jahren stark für den Wiederaufbau der Ukraine engagieren müssen.


„Sollte Russland seine Kriegsziele erreichen, lehne ich Aufbaumaßnahmen der EU ab.“
Ulrich Lechte (FDP)

Die Schäden werden jetzt schon auf bis zu eine Billion Dollar geschätzt - und der Krieg ist noch nicht vorbei. Wer soll das bezahlen?

Ulrich Lechte: Die Beseitigung der Kriegsschäden ist eine gesamteuropäische Aufgabe, um die wir nicht herumkommen werden. Zumindest dann nicht, wenn die Ukraine den Krieg gewinnt oder er zumindest so beendet wird, dass die Ukraine sich eigenverantwortlich um den Wiederaufbau kümmern kann. Sollte Russland seine Kriegsziele erreichen, lehne ich Aufbaumaßnahmen der EU ab. In diesem Fall muss Russland als Verursacher dieser massiven Schäden sich selbst um deren Reparatur kümmern.

Die Westbalkanstaaten stehen seit Jahren in der Warteschleife für einen EU-Beitritt und müssen nun zusehen, wie die Ukraine und Moldau an ihnen vorbeiziehen. Sendet die EU damit nicht das fragwürdige Signal aus: Ihr seid weniger relevant für Frieden und Sicherheit in Europa?

Ulrich Lechte: Der Westbalkan ist politisch eine der herausforderndsten Regionen in Europa. Aber wir können es uns angesichts des wachsenden Einflusses Russlands und Chinas dort nicht leisten, weiter Jahre oder Jahrzehnte über deren Beitrittsprozess zu diskutieren. Für mich ist klar, dass die Westbalkanstaaten vermutlich vor der Ukraine Vollmitglieder der EU werden. Sie sind viel weiter fortgeschritten in diesem Prozess und - bis auf Serbien - alle auf einem guten Kurs. Albanien und Nordmazedonien haben im Grunde alles erfüllt, was die EU von ihnen verlangt hat. Und auch die EU-Perspektive für Bosnien-Herzegowina oder den Kosovo ist sehr wichtig. In Bosnien wurden die religiös-ethnischen und strukturellen Konflikte seit dem Daytoner Friedensvertrag von 1995 nicht gelöst, aber auch hier gilt: Die europäische Perspektive ist der Weg, diese Probleme zu überwinden.

Warum gilt das für Serbien Ihrer Ansicht nach nicht? Das Land hat schon 2009 einen Beitrittsantrag gestellt, seit 2014 laufen Beitrittsverhandlungen.

Ulrich Lechte: Serbien kooperiert wirtschaftlich eng mit China und sucht neben der Nähe zur EU auch die Nähe zu Russland. Das funktioniert so einfach nicht. Außerdem hat die politische Führung die Opposition regelrecht zerstört. Das alles sind keine Voraussetzungen, um weiter über eine Aufnahme in die EU zu verhandeln.

Mit der Aufnahme der Ukraine, Moldau und der Westbalkanstaaten hätte die EU mehr als 30 Mitglieder. Wie handlungsfähig wäre sie dann überhaupt noch?

Ulrich Lechte: Kaum. Wir müssen dringend weg vom Einstimmigkeitsprinzip in nahezu allen Bereichen, damit einzelne Staaten in wichtigen Fragen die EU nicht länger blockieren können. Wir brauchen eine engere Zusammenarbeit in der Finanz-, Außen- und Sicherheitspolitik und müssen über die Rolle des Europäischen Parlaments und die zukünftige Besetzung der Kommission sprechen. Ohne diese Anpassungen kann eine noch größere Union nicht funktionieren.

Schon im Zuge der Osterweiterung konnten sich die Staaten nicht auf grundlegende Reformen einigen. Warum sollte das jetzt anders sein?

Ulrich Lechte: Die Bereitschaft der Staaten zu Reformen ist so groß wie lange nicht mehr. Der 24. Februar hat insbesondere auch den osteuropäischen Staaten vor Augen geführt, warum die EU-Mitgliedschaft für sie wichtig ist. Wir sind als politische, aber auch als Verteidigungsgemeinschaft mehr denn je aufeinander angewiesen. Erst recht, da sich die USA in Zukunft auf China und den Pazifik-Konflikt konzentrieren werden. Dass sowohl die EU als auch die Nato sich weiterentwickeln müssen - diese Erkenntnis ist gerade überall spürbar.

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Welche Beschlüsse erwarten Sie vom Nato-Gipfel Ende der Woche in Madrid?

Ulrich Lechte: Das zentrale Thema wird die Aufnahme Schwedens und Finnlands sein, die bisher von der Türkei blockiert wird. Aber auch sie ist mehr denn je auf die Nato angewiesen: Würde die Ukraine an Russland fallen, wäre das für die Türkei geopolitisch ebenfalls von Nachteil. Daher erwarte ich auf dem Gipfel zwar noch keine Entscheidung zu dem Thema, aber dauerhaft auch keine Fortsetzung der Blockade. Insgesamt sind auch die Nato-Staaten heute so geeint, wie ich es in meiner politischen Laufbahn noch nie erlebt habe. Es gibt es jetzt in Europa die Bereitschaft, mehr in die Verteidigungsfähigkeit zu investieren. Da werden wir auch in Deutschland langfristig mehr ausgeben müssen, als die 100 Milliarden Euro für das Bundeswehr-Sondervermögen, denn das schließt nur kurzfristig ein paar Lücken. Unsere Armeen in Europa sind noch lange nicht dafür gerüstet, uns gegen einen Aggressor zu verteidigen.