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Foto: picture alliance/AP Photo/Sergei Grits
Hunderttausende Ukrainer gingen 2013 auf die Straße, um gegen den damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu demonstrieren, der zuvor die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU verweigert hatte.

Ukraine strebt Beitritt zur EU an : "Licht am Ende des Tunnels"

Die Ukraine sucht seit drei Jahrzehnten die Nähe zur EU. Jetzt muss sie schwierige Reformen umsetzen.

27.06.2022
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5 Min

In keinem Mitgliedsland der EU sind so viele Menschen so begeistert von Europa wie in der Ukraine", sagt Kateryna Rietz-Rakul vom Verein Kul'tura in Berlin. "Die Menschen sind bereit, für Europa zu sterben." Auch dafür wird die Ukraine nun mit dem Status eines Beitrittskandidaten belohnt.

Den Grundstein für die Westorientierung des Landes legten die Ukraine und die EU bereits 1994. In einem Partnerschafts- und Kooperationsabkommen erklärten sie Menschenrechte und Marktwirtschaft zu unverzichtbaren Grundlagen ihrer Partnerschaft. In der Präambel hoben sie die Unterstützung der Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine hervor: Sie sei ein Beitrag zur Erhaltung von Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent. Schon damals wurde das Ziel formuliert, eine Freihandelszone einzurichten.

Die Reformen allerdings stockten. Deshalb gingen die Ukrainer 2004 das erste Mal massenhaft für einen demokratischen Wandel auf die Straße. Während der sogenannten "Orangefarbenen Revolution" protestierten vor allem junge Leute über Wochen im Zentrum der Hauptstadt Kiew gegen gefälschte Wahlen und das System des an Russland orientierten Autokraten Leonid Kutschma und dessen politischen Ziehsohn Wiktor Janukowitsch. Große Teile des Landes zogen allerdings nicht mit. Die Stimmung kippte, und Janukowitsch kam an die Macht.


„Der Beitritt zur EU wird unseren Staat modernisieren.“
Denis Schmygal, Premierminister

Trotzdem wurde die Ukraine Teil der Östlichen Partnerschaft, mit der die EU seit 2009 versuchte, sechs ehemalige Sowjetrepubliken enger an sich zu binden, ohne sie jedoch aufzunehmen. Parallel handelten die Ukraine und die EU ein Assoziierungsabkommen aus. Das Dokument war 2013 schon unterschriftsreif, als Janukowitsch unerwartet unter dem Einfluss von Russlands Präsident Wladimir Putin eine Kehrtwende machte. Das war der Anlass für neue erfolgreiche Massenproteste auf dem Zentralen Platz von Kiew, dem Maidan. Euromaidan wird die Bewegung daher genannt. Janukowitsch floh nach Moskau.

Die Ukraine unterzeichnete das Abkommen mit der EU doch noch und begann damit einen Prozess der Rechtsangleichung. Er umfasste den Freihandel mit der EU ebenso wie Rechtsstaatlichkeit der Ukraine und reichte bis zum Verbraucherschutz. 63 Prozent des Abkommens seien seitdem umgesetzt worden, versichern ukrainische Behörden. Und das, obwohl Russland seit 2014 Krieg gegen die Ukraine führt. 2017 wurden die Ukrainer mit Visafreiheit für die EU belohnt. Das und die russischen Angriffe auf den Donbas sowie die Annexion der Krim haben die europäische Identität der Ukrainer sogar noch gefördert. Seit 2019 ist der Beitrittswunsch zur EU in der ukrainischen Verfassung verankert. Aktuellen Umfragen zufolge unterstützen rund 90 Prozent der Ukrainer eine EU-Mitgliedschaft.

Die EU-Kommission schickte umfangreiche Fragebögen

Der Überfall Russlands am 24. Februar 2022 hat zu einer Beschleunigung des Prozesses durch die Ukraine geführt. Vier Tage nach dem Beginn des Großangriffs stellte die Regierung den Antrag auf EU-Mitgliedschaft. Die EU-Kommission schickte, wie in solchen Fällen üblich, umfangreiche Fragebögen. Diese haben die Ukrainer in Rekordzeit in wenigen Wochen ausgefüllt und damit das Votum in Brüssel positiv beeinflusst. Zufrieden schrieb Premierminister Denis Schmygal nach der Empfehlung der EU-Kommission, der Beitritt zur EU werde "unseren Staat modernisieren". Die Ukraine sei daran interessiert, "alle Änderungen so schnell wie möglich vorzunehmen. Die Ukraine ist Europa, und bald wird die Ukraine ein Mitglied der Europäischen Union sein."


„Die Knackpunkte sind im Grunde dieselben wie vor 30 Jahren.“
Andreas Umland, Osteuropaexperte

Doch es gibt viel zu tun. Damit Beitrittsverhandlungen mit der EU überhaupt erst beginnen können, gegliedert nach unterschiedlichen Kapiteln, müssen die Kandidaten Bedingungen erfüllen. Das gilt auch für die Ukraine. "Die Knackpunkte sind im Grunde dieselben wie seit 30 Jahren", erläutert Andreas Umland vom Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien. "Es geht um Reformen im Rechtsstaat und um Korruptionsbekämpfung." Eine Reform des Verfassungsgerichts steht ebenso auf der Liste wie der Kampf gegen Veruntreuung.

Die Ukraine wird als korrupter Staat wahrgenommen

Transparency International stufte die Ukraine auf dem Index der Wahrnehmung von Korruption 2021 auf Rang 122 von 180 ein. In Europa ist nur Russland schlechter. Dabei hat die Ukraine viele Gesetze und Institutionen für den Kampf gegen Korruption bereits geschaffen. "Aber zum Teil wurden Posten nicht besetzt, und die Praxis läuft nicht so, wie sie sollte", sagt Umland. "Kräfte im Parlament, in den Ministerien, eventuell auch in der Präsidialverwaltung haben versucht, die Interessen der Oligarchen zu schützen." Vor wenigen Tagen zitierte die Süddeutsche Zeitung exklusiv aus einem Bericht zur Korruption, den Dänemarks Außenministerium in Auftrag gegeben hat und halbwegs geheim hält. In der Ukraine gäbe es einen "Mangel an echtem Willen zur Korruptionsbekämpfung", heißt es auch dort. Mutmaßlich korrupte Richter würden die Arbeit der Antikorruptionsbehörde erschweren oder verhindern. Auch sei der Glaube weit verbreitet, auf die Justiz politisch Einfluss nehmen zu können.

Der Slowene Drago Kos, bis vor kurzem Leiter der Antikorruptionsgruppe des Europarates (GRECO), berichtet, Entscheidungen würden bewusst verzögert, die Besetzung von Posten mit qualifiziertem Personal verhindert. Mit dem Kandidatenstatus könne sich all das ändern, meint der Osteuropaexperte Umland. "Die Erfahrung der jüngeren EU-Mitgliedstaaten zeigt: Wenn die Belohnung groß genug ist, gehen die Reformen schneller." Umland ist optimistisch, dass die Beitrittsverhandlungen bereits 2023 beginnen können. Allerdings hänge das auch vom Verlauf des Krieges ab.

Foto: picture alliance/The Presidential Office of Ukraine

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen überreichte Präsident Volodymyr Selenskij im April 2022 persönlich die Antragsformulare.

"Der Krieg wird die Reformen in unserem Land nicht verhindern", ist Tetiana Lopashchuk von der deutsch-ukrainischen Dialogplattform "Kyjiwer Gespräche" überzeugt. Sie arbeitet seit Jahren im zivilgesellschaftlichen Bereich. Der Kandidatenstatus sei motivierend, sagt sie. "Und unsere Gesellschaft ist sehr resilient. Das sollte man nicht unterschätzen. Trotz des Krieges funktionieren unsere Institutionen weiter: das Online-Banking, Mobilfunk, alle Ministerien."

Oleksiy Goncharenko, Abgeordneter der Rada, des ukrainischen Parlaments, freut sich sogar über die Auflagen, die mit dem Kandidatenstatus einhergehen. Die Ukraine wolle nichts geschenkt. "Wir bekommen Hausaufgaben, die wir erledigen müssen. Und die Gesellschaft wird beginnen, die Politiker, Beamten und die Regierung der Ukraine zu diesen Hausaufgaben zu drängen." Die Aussicht auf einen EU-Beitritt werde zudem viele Menschen, die vor dem Krieg ins Ausland geflohen sind, zur Rückkehr bewegen. "Sie können dabei mitmachen, eine bessere Zukunft für unser Land aufzubauen. Es gibt Licht am Ende des Tunnels."

Ukrainer können sich in der EU frei bewegen und arbeiten

Um das Land zu stabilisieren, leistet die EU schon jetzt umfangreiche Hilfe, nicht nur finanziell. Die Stromnetze der Ukraine wurden mit dem kontinentaleuropäischen Netz synchronisiert, um die Elektrizitätsversorgung zu sichern. Die Ukrainer haben das Recht, sich frei in der EU zu bewegen und zu arbeiten.

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat vor einigen Wochen vorgeschlagen, eine neues, zusätzliches Format der europäischen Kooperation zu schaffen: Eine "politische Gemeinschaft", in der EU- und Nicht-EU-Länder zum Beispiel in den Bereichen Sicherheit, Investitionen, Bildung, Verkehr, Energieversorgung zusammenarbeiten sollen. In der Ukraine wurde dieser Vorschlag zunächst als eine Art Trostpflaster und Alternative zum EU-Beitritt aufgefasst und entschieden zurückgewiesen. Der Osteuropa-Experte Umland hält Macrons Idee hingegen für sinnvoll. "So eine Struktur wäre eine gute Ergänzung zum Beitrittsprozess, zumal die EU damit auch die Briten ins Boot holen könnte."

Eine seriöse Vorhersage, wann die Ukraine tatsächlich Mitglied der EU wird, wagt zurzeit niemand. Zumal sich Stimmen mehren, die zunächst Reformen innerhalb der Europäischen Union anmahnen. Erst, wenn zentrale Punkte wie das Ende der Einstimmigkeit in außenpolitischen Fragen und der Umgang mit rechtsstaatlichen Defiziten in Mitgliedstaaten wie Ungarn geklärt seien, könne sie neue Mitglieder aufnehmen.