Zivile Seenotrettung : Vom Kurs abgekommen
Die Arbeit von Seenotrettern soll laut Bundesregierung nicht behindert werden. Doch neue Regelungen für die Schifffahrt könnten genau das zur Folge haben.
Im vergangenen Jahr kamen 150.177 Personen über die Mittelmeer-Route nach Europa, 1.940 Personen haben nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR diese Überfahrt nicht überlebt oder gelten als vermisst. Allein in diesem Jahr kamen bislang bereits geschätzt 1.875 Menschen (Stand 10. Juli) auf dem Mittelmeer ums Leben. Eines der größten Unglücke der vergangenen Jahre ereignete sich am 14. Juni 2023, als ein Boot, auf dem 500 bis 700 Menschen gewesen sein sollen, rund 50 Seemeilen südwestlich der griechischen Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern sank; nur 104 Menschen konnten gerettet werden.
Migranten bei der gefährlichen Überfahrt von der Nordküste Afrikas über das Mittelmeer in Richtung der italienischen Insel Lampedusa.
Dass nicht noch mehr Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben verlieren, ist der Arbeit der zivilen Seenotrettung zu verdanken. Die Helferinnen und Helfer von Organisationen wie Mission Lifeline, Ärzte ohne Grenzen, Resqship, United4Rescue oder Sea Watch patrouillieren das Mittelmeer auf der Suche nach in Seenot geratenen Menschen.
Ihre Arbeit darf, so steht es zumindest im Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, "nicht behindert werden". Doch dieses Versprechen sehen die Seenotretterinnen und -retter in Gefahr - durch eine Novelle aus dem Haus von Verkehrsminister Volker Wissing (FDP). Eine Neufassung der Schiffssicherheitsverordnung, die derzeit erarbeitet wird, hat zu großer Empörung geführt.
Neue Anforderungen für Seenotretter geplant
Das Problem: Bislang fallen die meisten Schiffe der Seenotrettungen unter den Sport- und Freizeitbereich. Die Anforderungen der Schiffsicherheitsverordnung gelten bisher nur für Schiffe mit kommerziellen Zwecken wie etwa Fähren oder Containerschiffe.
Die Klassifizierung der Schiffe soll nun jedoch geändert werden. Das ARD Magazin "Monitor" hatte im Frühjahr von einem Referentenentwurf aus dem Verkehrsministerium berichtet, laut dem Schiffe mit "politischen (...) und humanitären Aktivitäten oder vergleichbaren ideellen Zwecken" nicht mehr zum Freizeitbereich gehören sollen.
Die Hilfsorganisationen fürchten nun, dass in der Folge an den Schiffen teure Umbauten nötig werden. Zusätzliche Technik, veränderte Versicherungsbedingungen und weitere Auflagen würden den Weiterbetrieb der Schiffe erschweren oder gar ganz unmöglich machen. Oder die Schiffe sind bereits zu alt, um für eine Klassifizierung überhaupt in Frage zu kommen. Das wäre zum Beispiel bei der "Rise Above" der Organisation Mission Lifeline der Fall. Das ehemalige Bundeswehrschiff ist älter als die Regelgrenze von 20 Jahren, wie Axel Steier, Pressesprecher der Organisation, berichtet. Für Mission Lifeline sei es unmöglich, die Bedingungen zu erfüllen.
Situation in Italien bleibt angespannt
Die geplante Änderung setzt die Nichtregierungsorganisationen weiter unter Druck, deren Arbeit ohnehin bereits unter anderem von den italienischen Grenzschutzbehörden massiv behindert wird. Deren Patrouillen lassen immer wieder Schiffe mit Geretteten nicht in italienische Häfen einlaufen oder setzen sie vor dem Auslaufen fest.
Aus dem Verkehrsministerium heißt es zu der Kritik: "Die anstehende Änderung der Schiffssicherheitsverordnung zielt nicht auf die Behinderung von privater Seenotrettung im Mittelmeer ab - im Gegenteil." Es solle vielmehr deren Arbeit abgesichert werden, indem mögliche Sicherheitsmängel bei den eingesetzten Schiffen verhindert würden.
Der Koalitionsvertrag zum Thema Seenotrettung
Im Wortlaut - "Es ist eine zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen. Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden. Wir streben eine staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an und wollen mit mehr Ländern Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus weiterentwickeln. Wir streben eine faire Verantwortungsteilung zwischen den Anrainerstaaten des Mittelmeers bei der Seenotrettung an und wollen sicherstellen, dass Menschen nach der Rettung an sichere Orte gebracht werden. [...] Frontex soll sich im Rahmen des Mandats bei der Seenotrettung aktiv beteiligen."
So solle der Schutz von Leib und Leben sowohl der Besatzung, von ehrenamtlichen Helfern als auch das von den aus Seenot Geretteten gewährleistet werden, heißt es in einer Stellungnahme. Die Schiffssicherheitsverordnung sollte bereits 2020 unter dem damaligen Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) geändert werden. Aufgrund eines Verfahrensfehlers war die Einführung jedoch gerichtlich untersagt worden. "Das aktuelle Vorhaben soll in diesem Punkt Rechtsklarheit schaffen", heißt es dazu aus dem Verkehrsministerium. Auf Nachfrage, ob es seit Bekanntwerden des Referentenentwurfs Neuerungen an dem Papier gegeben hat und wann mit einer Einführung der Novelle zu rechnen ist, äußerte sich das Ministerium nicht.
Kritiker: Koalition verstößt gegen eigenen Koalitionsvertrag
Die Argumentation, dass lediglich die Sicherheit erhöht werden soll, halten Kritiker für Schönfärberei und für einen Versuch, die zivile Seenotrettung einzuschränken. In seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Innenausschusses zur Europäischen Asyl- und Migrationspolitik Ende März machte Felix Braunsdorf von Ärzte ohne Grenzen deutlich: "In Deutschland erschwert das Bundesverkehrsministerium mittels einer Verschärfung der Schiffssicherheitsverordnung wissentlich die sonst von der Bundesregierung begrüßte Arbeit ziviler Seenotrettungsorganisationen. Damit verstößt die Bundesregierung gegen ihren eigenen Koalitionsvertrag, der besagt: 'Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden.'"
Stefan Krüger, Leiter des Instituts für Entwerfen von Schiffen und Schiffssicherheit an der Technischen Universität Hamburg, versucht einen differenzierenden Blick auf die Problematik: "Es ist in der Tat eine missliche Situation." Eigentlich brauche es eine Regelung, die Rechtssicherheit schaffe, auch im Sinne der Hilfsorganisationen. Denn nach internationalem Recht, so erklärt es Krüger, gilt jedes Schiff, das mehr als zwölf Personen aufnimmt und befördert, die nicht zur Besatzung gehören, als Passagierschiff und muss daher die besonders strengen Sicherheitsregularien für Passagierschiffe erfüllen. Ein Schiff, das diese Regularien nicht erfüllt, darf dann nach internationalem Recht auch nur zwölf Personen aufnehmen."
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Es bestehe derzeit eine rechtliche Lücke, die man mit der Überarbeitung der Schiffssicherheitsverordnung zu schließen versuche. Denn auf Grundlage dieser Lücke könnten die Grenzschutzbehörden von Mittelmeeranrainern Schiffe von Seenotrettungsorganisationen blockieren, sobald diese mehr als zwölf Passagiere an Bord haben. "Und das ist ja ganz und gar nicht im Sinne der Helfer, " sagt Krüger.
Doch die Situation sei kompliziert, eine Lösung sei in der Tat schwierig, denn man habe es bei der zivilen Seenotrettung immer noch mit einem relativ neuen rechtlichen Sachstand zu tun. "Hier wird gerade versucht, eine technische Lösung zu finden für ein Problem, das einer politischen Lösung bedarf", so Krüger.