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Menschenschmuggel : "Sie sind nur ein Akteur im Gesamtsystem"

Schlepper und Schleuser werden oft allein für den Tod von Migranten verantwortlich gemacht. Für den Sozialwissenschaftler Marcus Engler ist das eine verkürzte Sicht.

14.08.2023
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4 Min

Zusammengepfercht im Lieferwagen oder im Boot, in Seenot geraten, sich selbst überlassen, über Bord geworfen oder zu Dutzenden erstickt - das sind die Schreckensmeldungen, die seit Jahren über das Schicksal von irregulären Migranten zu vernehmen sind. Meist haben sich die Migranten Menschen anvertraut, die ihnen eine sichere Überfahrt versprochen haben. Was sind das für Leute, die das Leid von Menschen ausnutzen und dafür sogar über Leichen gehen?

Foto: picture alliance/Roland Schlager/apa/picturedesk.com

Tödliches Geschäft: 71 Flüchtlinge starben 2015 im luftdicht verschlossenen Laderaum des Lastwagens. Schlepper hatten ihn an einer Autobahn in Österreich stehen lassen.

Man nennt sie Schlepper, Schleuser oder Menschenschmuggler. Sie bringen Menschen durch die Sahara, übers Mittelmeer oder über den Balkan nach Mitteleuropa. Laut Schätzungen von Europol nutzen 90 Prozent der Menschen, die illegal Außengrenzen der Europäischen Union übertreten, die Dienste von Schleppern.

Dafür bezahlen die Migranten meist nicht nur mehrere Tausend Euro, sondern oft auch mit dem Leben. Der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge sind seit 2014 über 20.000 Menschen allein bei der Fahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Hinzu kommen Berichte über Missbrauch und Misshandlungen, aber auch Ausbeutung und Sklaverei durch kriminelle Strukturen. Man muss jedoch unterscheiden zwischen Menschenschmuggel und Menschenhandel - die Begriffe werden oft miteinander vermengt.

Menschenschmuggel geschieht freiwillig für die Betroffenen, Menschenhandel nicht. Allerdings können Schleuser die Situation von Migranten ausnutzen, um sie zu täuschen oder auszubeuten, etwa wenn es darum geht, Schulden zu bezahlen.

Die Vereinten Nationen definieren Schlepperei als "die Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Vertragsstaat, dessen Staatsangehörige sie nicht ist oder in dem sie keinen ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen". Die Betonung liegt auf der Bereicherung, ausdrücklich ausgenommen sind Familienmitglieder oder Hilfsgruppen - in diesem Fall spricht man von Fluchthilfe.

Nebeneinkünfte für Fischer

Laut Bundeskriminalamt steigt die Fallzahl von Schleuserkriminalität in Deutschland seit Jahren an. Die Schleuser befördern die Migranten zunehmend in Fahrzeugen und sollen dabei "erhebliche gesundheitliche beziehungsweise lebensgefährliche Risiken billigend in Kauf" nehmen. Es soll sich dabei um eine "international organisierte, netzwerkartige Vorgehensweise der Tätergruppierungen" handeln.


„Ein entscheidender Punkt, der in der Diskussion vernachlässigt wird: Es gibt keine anderen Wege.“
Marcus Engler, Sozialwissenschaftler am Deutschen Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung

Doch so eindeutig ist der Befund oft nicht. Vielmehr gebe es bei Schleppern eine große Bandbreite an Motiven, sagt Marcus Engler, Sozialwissenschaftler am Deutschen Zentrum für Migrations- und Integrationsforschung. "Es gibt Personen, die darauf abzielen, Gewinn zu maximieren, und in Kauf nehmen, Menschen in gefährliche Situationen bringen. Es gibt Hintermänner, die oft eine Form von organisiertem Verbrechen hinter sich haben. Es gibt aber auch andere Formen wie einfache Fischer, die mit Schlepperei Einnahmen generieren, weil klassische Geschäftsmodelle nicht genug einbringen." Teilweise steuerten auch Flüchtlinge selbst Boote, um ihre eigene Überfahrt zu bezahlen.

"Ein entscheidender Punkt, der in der Diskussion vernachlässigt wird: Es gibt keine anderen Wege", sagt Engler. "Wenn Staaten keine Visa ausstellten, Grenzschutzanlagen errichteten, ihre Grenzen überwachen und völkerrechtswidrige Pushbacks durchführen, haben die Migranten keine andere Wahl. Deshalb ist der moralische Diskurs darüber auch scheinheilig." Je mehr Abschottung und Kontrolle es gebe, desto gefährlicher sei die Reise für die Menschen.

Das zeigt sich etwa auf den Mittelmeer-Routen, wie Engler berichtet. "Da liefern sich die Schleuser ein Katz- und Maus-Spiel mit den Sicherheitskräften. Um nicht abgefangen zu werden, fahren manche nachts oder bei schlechtem Wetter los, dadurch steigt auch das Risiko, in Seenot zu geraten. Auch Schlepperboote zu zerstören, erhöht die Gefahr, denn wenn sichere Boote nicht mehr benutzt werden können, greifen Schleuser auf unsichere zurück."

Was ist dran am Pull-Faktor?

Ein oft geäußerter Vorwurf ist, dass Seenotrettungsmissionen Schleuser begünstigen oder gar mit ihnen zusammenarbeiten. Je mehr Rettungsschiffe unterwegs sind, desto mehr Boote fahren los, lautet die These vom sogenannten Pull-Faktor.

Engler kann das auf Grundlage des aktuellen Forschungsstandes nicht bestätigen. "Es ist nicht leicht zu untersuchen, aber bisherige Studien zeigen hierfür keinen eindeutigen Zusammenhang." Auch für eine Zusammenarbeit zwischen Seenotrettern und Schleusern gebe es keine Belege, so Engler. Dennoch werden immer wieder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen als Schlepper kriminalisiert und vor Gericht gestellt. Die Europäische Union setzt unterdessen weiter auf Abschottung und Kooperation mit Ländern wie der Türkei, Libyen und Tunesien, um die Schlepper aufzuhalten. Dennoch kommen jedes Jahr weit über 100.000 Menschen übers Mittelmeer, seit 2020 steigt die Zahl wieder.

"Die Europäische Union tut bei Weitem nicht genug", sagt Wissenschaftler Engler und betont, dass die Verantwortung nicht allein bei Schleusern liege. Sie seien nur ein Akteur in einem Gesamtsystem, bei dem es zu viele Variablen gebe, von der Situation in den Herkunftsländern bis zur Grenzsicherung.

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Warum aber lassen sich so viele Menschen auf die gefährliche Reise und das Geschäft mit Schleusern ein? "Sie wissen, dass es riskant ist, dass sie ihr Leben verlieren können", sagt Engler. "Oft ist ihr Leben in Herkunfts- und Transitstaaten in Gefahr. Oder sie sehen in ihrer Lebenssituation eine Perspektivlosigkeit und glauben nicht, dass sie sich verbessern wird. Deshalb sind sie bereit, das Risiko einzugehen."

Lukas Gedziorowski ist Onlineredakteur bei "Deutschlandfunk Kultur" und freier Autor.