Interview mit Migrationsforscher Jochen Oltmer : "Die Bundesrepublik wird attraktiv für Migranten bleiben"
Migration ist in Deutschland der Normalfall, meint Migrationsexperte Jochen Oltmer. Ein Gespräch über Ängste, Vorurteile und die positiven Seiten von Zuwanderung.
Herr Professor Oltmer, weltweit sind so viele Menschen auf der Flucht wie nie, auch in Deutschland ist die Zuwanderung auf einem Höchststand. Wie ist das zu erklären?
Jochen Oltmer: Bei diesen Zahlen muss man vorsichtig sein. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR hat viele Bewegungen lange Zeit nicht erfasst, etwa die der Binnenvertriebenen, die den größten Teil ausmachen. Auch wurde die Kategorie des Flüchtlings in der UNHCR-Definition erst Anfang der 1950er Jahre geschaffen, und danach erfasste sie bis 1967 nur Menschen in Europa. Historische Bezugnahmen sind somit schwierig. Es lässt sich nicht belegen, dass Migration weltweit heute ein höheres Gewicht hat als früher.
Trotzdem ist die Wahrnehmung: Da kommen immer mehr Menschen. Hierzulande wissen die Kommunen teilweise nicht mehr, wo sie die Schutzsuchenden unterbringen sollen.
Jochen Oltmer: Aktuell ist ihre Zahl durch den Ukraine-Krieg und Fluchtbewegungen aus anderen Teilen der Welt recht hoch. Aber solche Hochphasen hat es immer wieder gegeben, zuletzt im Zuge des Syrienkrieges 2015/16, aber beispielsweise auch in den 1990ern, als uns unter anderem Flüchtende aus den post-jugoslawischen Bürgerkriegen erreichten. Seit der Gründung der Bundesrepublik kamen Menschen zehnmillionenfach, laut den UN sind wir heute nach den USA das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt. Trotzdem behandeln Politik und Medien Migration wie ein neues Phänomen und skandalisieren es. Das ist nicht hilfreich, wenn es darum geht, Lösungen zu finden.
Jochen Oltmer beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema Migration. Er arbeitet in zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten mit, etwa beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
Aber es wird doch ständig nach Lösungen gesucht. So haben sich die EU-Mitgliedstaaten gerade erst auf eine Reform der europäischen Asylpolitik verständigt.
Jochen Oltmer: Seit zwei Jahrzehnten wird in der EU über Verteilungsgerechtigkeit diskutiert, aber bisher ist keine der Ideen umgesetzt worden. Das Thema Flucht wird im Bund und in der EU im Rahmen von wiederkehrenden "Flüchtlingsgipfeln" bearbeitet, also als Ausnahme, für die Notfallmaßnahmen erforderlich sind - als wüssten wir nicht, dass es Fluchtbewegungen schon immer gab und immer geben wird. In den 30 Jahren, die ich mich mit dem Thema beschäftige, werden die gleichen Debatten mit den immer gleichen Stichworten geführt. Das ist eine Simulation von Politik.
Sie sagen, Migration wird skandalisiert. Woran machen Sie das fest?
Jochen Oltmer: In der Debatte dominieren negative Bezüge: Einwanderung in die Sozialsysteme, Gewalttaten, volle Flüchtlingsunterkünfte. Die Normalität der Migration spielt kaum eine Rolle. Selbst in den deutschen Schulbüchern gilt Migration als Ausnahme, als Problem. Dass ein großer Teil der Schüler Erfahrungen mit Migration hat, entweder selbst oder in der Familie, wird nicht reflektiert. Dabei wissen wir heute, dass die Art, wie über Migration gesprochen wird, unsere Wahrnehmung prägt.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es die von Ihnen benannten Probleme gibt. Zuwanderung erzeugt Spannungen und löst bei vielen Menschen Ängste aus.
Jochen Oltmer: Natürlich führt Migration zu Konflikten, Störungen und Belastungen, für welches soziale Phänomen gälte das nicht. Aber wir neigen dazu, Einzelphänomene zu problematisieren und auf das Ganze zu projizieren. Der größte Teil von Migration findet nahezu unbeobachtet statt. So kommen jedes Jahr Hunderttausende Menschen aus anderen EU-Staaten zu uns. Sie gelten als "mobil", nicht als Migranten. Damit unterscheiden wir schon verbal zwischen angeblicher Bereicherung und Belastung. Und manchmal ändert sich die Wahrnehmung auch plötzlich, wie während der britischen Brexit-Kampagne gut zu beobachten war.
Sie spielen auf die Arbeitskräfte aus Polen an?
Jochen Oltmer: Ja, eben noch begehrte Kräfte, weil mobil und flexibel, wurden aus ihnen "polnische Migranten". Dadurch drehte sich die Stimmung. Aber auch bei uns wurden bis Anfang der 2000er Jahre Zugewanderte aus Polen mit negativen Bildern belegt: Es hieß, sie seien kriminell und würden unsere Autos klauen. Heute ist Polen eines der wichtigsten Herkunftsländer und kaum jemand spricht über Migration von dort. Bei den Zugewanderten aus Bulgarien und Rumänien stand vor wenigen Jahren noch die so genannte Einwanderung in die Sozialsysteme im Vordergrund. Heute wissen wir, dass ihre Erwerbslosenrate gering und der Anteil der Hochqualifizierten hoch ist. Gesellschaftliche Debatten fokussieren bestimmte Aspekte der Migrationsverhältnisse. Das sagt aber wenig über die Migrationsverhältnisse insgesamt aus.
Junge Männer aus Afghanistan, Irak und den Maghreb-Staaten haben ein schlechtes Image und sind auch in den deutschen Kriminalitätsstatistiken sehr präsent. Haben wir ein besonderes Problem mit Zuwanderern aus muslimischen Ländern?
Jochen Oltmer: Damit sind wir wieder beim Thema Wahrnehmung: Sie haben, wie Sie richtig sagen, ein schlechtes Image. Sie werden mit Vorstellungen über Bedrohung und Belastung in Verbindung gebracht, was ihr Ankommen in der deutschen Gesellschaft immens erschwert. Und die Kriminalitätsstatistiken: Diese verweisen auf soziale Lagen, nicht auf Religion und räumliche Herkünfte.
Als 2015 Hunderttausende vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland flohen, war die Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung groß. Die Menschen unterscheiden offenbar nicht immer zwischen "guter" und "böser" Migration.
Jochen Oltmer: Die Bewegung syrischer Geflüchteter galt wegen des brutalen Vorgehens des syrischen Regimes lange als legitim, die Aufnahme als nötig. Ähnlich war es bei der Aufnahme vietnamesischer Boat People. Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der jeden Abend in der Tagesschau zu sehen war. Die Bilder zeigten ausgemergelte Frauen und Kinder, Menschen, die handlungsunfähig schienen. Eine Gesellschaft wie die bundesdeutsche glaubt, unterscheiden zu können, ob eine Flucht aus Afghanistan oder aus dem Irak legitimer ist als eine aus Vietnam oder der Ukraine - und orientiert sich dabei nicht selten an Bildern, Hörensagen und Vor-Urteilen.
Eine verbreitete Auffassung ist, dass Zuwanderer, die einmal in Deutschland sind, für immer bleiben. Stimmt das überhaupt?
Jochen Oltmer: Das hängt von der Konstellation ab. In Syrien hat sich die Situation nicht so verbessert, dass absehbar eine Perspektive zur Rückkehr besteht. Der Normalfall ist aber das Hin und Her: 2021 kamen 1,3 Millionen Menschen nach Deutschland, eine Million gingen.
Wenn von ausländischen Fachkräften die Rede ist, heißt es immer, sie müssten "angeworben" werden. Warum spielen Zuwanderer, die schon hier sind, dabei eine so geringe Rolle? Oder ist das eine falsche Wahrnehmung?
Jochen Oltmer: Auf jeden Fall werden die vorhandenen Potenziale bisher zu wenig genutzt. Migranten sind fast immer jung, größtenteils zwischen 16 und Ende 20. Das heißt, sie stehen kurz vor einer Ausbildung, sind mittendrin oder haben schon eine Qualifikation erworben und suchen einen Job. Nur zum Vergleich: Das Durchschnittsalter in Deutschland lag 2017 bei 45,9 Jahren, unter den Zugewanderten bei 23,5 Jahren. Da wundert es schon, dass wir mit Blick auf unsere Volkswirtschaft nicht mehr über den Nutzen von Migration reden.
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Jochen Oltmer: In Deutschland ist die Angst vor Unordnung und Kontrollverlust weit verbreitet. Deshalb haben wir bürokratische Hürden eingezogen, die Menschen daran hindern, zu kommen und Chancen wahrzunehmen. Es gibt zum Beispiel mehr als 80 verschiedene Aufenthaltszwecke. Und die Anerkennung von im Ausland erworbenen Qualifikationen ist in unserem Land der Zeugnisse weiterhin schwierig.
Migranten sollen jetzt unter anderem schneller einen deutschen Pass bekommen.
Jochen Oltmer: Diese Reform kommt spät, aber immerhin. Sie ist wichtig für die Akzeptanz von Einwanderung. Acht Jahre nach 2015 sind zum Beispiel viele Syrer gut in dieser Gesellschaft angekommen, sie richten ihre Zukunft auf Deutschland aus. Das sollten wir über die Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft anerkennen.
Weltweit sollen Mauern und Grenzen auf einer Gesamtlänge von 26.000 Kilometern Zuwanderer fern halten. Abschottung liegt im Trend, auch bei uns in Europa.
Außengrenzen verstärken, Asylrecht verschärfen: Die EU hat viel vor, um die Zahl der Migranten zu reduzieren. Doch die geplante Reform steht vor großen Hürden.
Wie wird sich die Migration in Deutschland aus Ihrer Sicht weiter entwickeln?
Jochen Oltmer: Die Bundesrepublik wird attraktiv für Migranten bleiben. Sie bietet Stabilität, Sicherheit, Wohlstand. Außerdem ist zu bedenken: Migranten folgen Migranten nach, Migration findet meist in Netzwerken statt. Ein Ankunftsland wird deshalb lange Ankunftsland bleiben. In der bundesdeutschen Gesellschaft fehlt es aber immer noch am Bewusstsein, unumkehrbar Migrationsgesellschaft zu sein. Folgenreiche Unterscheidungen und Abgrenzungen zwischen dem "Wir" und den "Anderen" bestimmen weiterhin Politik, Medien und den Alltag. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass es Folgen hat, Migration als Ausnahme zu verstehen und nicht als gesellschaftlichen Normalfall.
Prof. Dr. Jochen Oltmer lehrt am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien sowie am Historischen Seminar der Universität Osnabrück.