Debatte über neues EU-Asylrecht : Europäische Union will sich stärker abschotten
Außengrenzen verstärken, Asylrecht verschärfen: Die EU hat viel vor, um die Zahl der Migranten zu reduzieren. Doch die geplante Reform steht vor großen Hürden.
Griechische Grenzpolizisten patrouillieren an einem Grenzzaun.
Asyl oder anderweitigen Schutz können nur die europäischen Staaten gewähren. Doch die Regeln, nach denen das geschieht, sind im EU-Recht festgelegt. So gibt es beispielsweise vor, wie ein Antragsteller registriert werden muss, welcher Staat für die Antragstellung zuständig ist, welche Mindeststandards im Verfahren und bei der Unterbringung gewährleistet werden müssen und wie Personen rücküberstellt werden, wenn sie regelwidrig weitergereist sind.
Dieses sogenannte Gemeinsame Europäische Asylsystem, kurz GEAS, hat allerdings seit der Flüchtlingskrise von 2015 nicht mehr funktioniert. Seit Jahren werden die meisten Asylanträge in Deutschland und Frankreich gestellt, nicht in Italien oder Griechenland, wo die Migranten ankommen. In jüngerer Zeit stehen auch Österreich, die Niederlande und Belgien unter hohem Druck, obwohl sie Binnenländer sind.
Grenzbauten aus EU-Mitteln?
Diese Lage hat in der EU zu einer doppelten Entwicklung geführt. Zum einen dringen die Mitgliedstaaten auf eine stärkere Abschottung an den Außengrenzen. Im Februar forderten die Staats- und Regierungschefs die EU-Kommission auf, "unverzüglich umfangreiche Finanzmittel und Ressourcen der EU zu mobilisieren, um die Mitgliedstaaten beim Ausbau von Grenzschutzkapazitäten und -infrastruktur, Mitteln für die Überwachung, einschließlich der Luftüberwachung, und Ausrüstung zu unterstützen". Damit ist es nun auch möglich, physische Infrastruktur aus dem EU-Budget zu finanzieren - das war bisher tabu. Das erste Projekt für den Ansatz ist der bessere Schutz der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei.
Das Bedürfnis nach Abschottung zeigt sich auch darin, dass die Mitgliedstaaten nun vermehrt darauf setzen, Abkommen mit Drittstaaten auf den Transitrouten zu schließen, damit die Migranten an der Überfahrt nach Europa hindern. Vorbild dafür ist die jüngste Vereinbarung mit Tunesien vom Juli. Die EU bietet dem Land Investitionen und Makrofinanzhilfe, sie rüstet seine Küstenwache auf und öffnet einen schmalen Pfad für Facharbeitskräfte, die legal einreisen dürfen. Solche Deals sollen nun auch mit Ägypten und Marokko geschlossen werden. Viele EU-Staaten würden zudem gerne Migranten aus dem südlichen Afrika und anderen Regionen in diese Länder zurückschieben. Dafür hat sich aber seit Jahren kein Partner gefunden, auch Tunis lehnt das vehement ab.
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Deswegen kommt es auch auf die andere Entwicklung an: die Verschärfung des EU-Asylrechts. Darüber wird seit der großen Flüchtlingskrise von 2015 diskutiert. Es müsse einen neuen Ausgleich geben zwischen der Verantwortung der Außengrenzstaaten und der Solidarität der Binnenländer, wenn deren Aufnahmesysteme überlastet sind - auf diese Formel konnten sich fast alle einigen. Wie das im Einzelnen bewerkstelligt werden soll, blieb aber umstritten. Erst durch den äußeren Druck eines immer größeren Zustroms - 2022 wurden fast eine Million Asylanträge im Schengenraum gestellt - haben sich die Staaten im Juni auf den politischen Kern einer Reform verständigt. Demnach soll es beim Grundsatz der sogenannten Dublin-Verordnung bleiben: Zuständig für einen Asylantrag bleibt der Staat, in dem ein Bewerber erstmals die EU betritt - in aller Regel also die Länder an den Außengrenzen zu Land und am Mittelmeer.
"Die Staaten verpflichten sich, nach einem festen Schlüssel, Asylbewerber zu übernehmen oder für jeden, den sie nicht aufnehmen, einen Solidaritätsbeitrag von 20.000 Euro zu entrichten."
Sie werden sogar stärker in die Pflicht genommen, denn künftig sollen sie die Personen mit Aussicht auf Schutz von jenen trennen, die kaum Chancen darauf haben. Letzteres gilt, wenn ein Herkunftsland im EU-Durchschnitt auf eine Anerkennungsquote von zwanzig Prozent und weniger kommt. Im vorigen Jahr hätte das gut 400.000 Menschen betroffen. Ihr Asylantrag soll künftig in einem Schnellverfahren an der Grenze bearbeitet werden, in nur drei Monaten. Dafür müssen die Staaten insgesamt 30.000 Plätze bereitstellen, woraus sich eine maximale Jahreskapazität von 120.000 ergibt. Die Staaten setzen darauf, dass sich ein abschreckender Effekt ergibt, denn während des Verfahrens dürfen die Betroffenen interniert werden und bei Ablehnung schneller abgeschoben werden.
Streit um Aufnahmequoten
Kommt es dennoch zu einer Überlastung, soll ein Solidaritätsmechanismus greifen. Die Staaten verpflichten sich, nach einem festen Schlüssel, Asylbewerber zu übernehmen oder für jeden, den sie nicht aufnehmen, einen Solidaritätsbeitrag von 20.000 Euro zu entrichten. Zunächst wird mit 30.000 "Relocations" im Jahr gerechnet, davon entfallen 6500 auf Deutschland. Die EU-Kommission könnte aber auch mehr einfordern. Auf jeden Fall liegt die Zahl unter dem gegenwärtigen Zustrom. Sie zeigt an, wo derzeit die Obergrenze der Hilfsbereitschaft liegt. Polen und Ungarn haben schon erklärt, dass sie keinen einzigen Bewerber aufnehmen würden. Das dürfte Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen, in denen die Kommission Strafzahlungen durchsetzen könnte.
Noch ist die Reform allerdings nicht in trockenen Tüchern. Der Kompromiss von Juni erfasst nur die Mitgliedstaaten, jetzt müssen sie mit dem Europäischen Parlament verhandeln, das gleichberechtigter Mitgesetzgeber ist. Das Parlament trägt zwar die Grundzüge mit, will den Kompromiss aber an mehreren Stellen aufweichen. So sollen nach seinem Willen Familien mit Kindern unter 12 Jahren grundsätzlich vom Grenzverfahren ausgenommen werden; die Staaten wollen das nur unbegleiteten Minderjährigen zugestehen. Die Bundesregierung hatte eine Ausnahme für alle Familien mit Kindern gefordert, stand damit in den Verhandlungen aber weitgehend allein. Angestrebt wird eine Einigung vor der Europawahl im Juni 2024..
Der Autor ist politischer Korrespondent der FAZ in Brüssel.