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USA : Beinfreiheit oder Tritt vors Schienbein?

Die Republikaner stehen vor den Midterms ohne den üblichen Oppositionsbonus da. Aber auch die Demokraten müssen bangen.

17.10.2022
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4 Min

Seit er 2016 inmitten breiter Hillary Clinton-Euphorie einen klaren Wahlsieg von Donald Trump prognostizierte (und recht behielt), hört die politische Klasse in Amerika genauer hin, wenn sich der linke Dokumentarfilmer Michael Moore ins Tagesgeschäft einklinkt.

Der preisgekrönte Macher von Werken wie "Bowling for Columbine" sagt den Demokraten bei den in knapp drei Wochen stattfindenden Zwischenwahlen zum Kongress einen erdrutschartigen Sieg voraus und steht damit gegen alle historische Erfahrung erneut fast mutterseelenallein auf politischer Flur.

Biden könnte die Totalblockade drohen

Denn die volatile Umfragen-Industrie tendiert im Grundsatz dazu, dass auch die 2022er Auflage der Midterms der Faustregel der vergangenen Dekaden folgt. Danach kassiert die Partei des amtierenden Präsidenten, in diesem Fall ist es der Demokrat Joe Biden, zwei Jahre nach Amtsantritt voraussichtlich einen Tritt gegen das Schienbein.

Die Ausgangskonstellation scheint Republikaner-freundlich: Um die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, müssten die Konservativen im Repräsentantenhaus von 435 Sitzen nur zusätzliche fünf zurückerobern. Im Senat, wo nur 35 von 100 Posten neu zu vergeben sind, reicht ein einziger.

Dabei gilt: Bereits der Verlust der Mehrheit in nur einer Kongresskammer würde Biden in der zweiten Halbzeit seiner Amtsperiode bis Januar 2025 massiv politische Beinfreiheit kosten. Gingen beide "Häuser" an die republikanische Opposition, droht dem Mann im Weißen Haus die Totalblockade und dem Land Gesetzgebungsstillstand.

Abtreibungsurteil mobilisiert Wählerschaft

Moore stützt seine Annahme im Kern auf zwei Faktoren: Danach hat im Sommer die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in Washington, das seit fast 50 Jahren landesweit geschützte Recht auf Abtreibung zu kippen und die Zuständigkeit für Schwangerschaftsabbrüche an die 50 Bundesstaaten zurückzugeben, nachgerade "tektonische Verschiebungen" in der Wählerschaft bewirkt. Zu Hunderttausenden hätten sich Frauen quer durchs Land in die Wählerverzeichnisse eintragen lassen; mutmaßlich, um ihren tiefen Unmut über das vielerorts de facto zu einem Totalverbot von Abtreibungen führende Urteil des unter Donald Trump mehrheitlich nach rechts-konservativ verschobenen Supreme Courts an der Wahlurne zum Ausdruck zu bringen.

Bei den Republikanern herrscht seither latent Panik. Viele ihrer Kandidatinnen und Kandidaten umschiffen das Thema "abortion" nach Kräften. Die Demokraten dagegen stellen die von fast 70 Prozent der Bevölkerung als Rückschritt empfundene Aufhebung einer landesweit einheitlich-verlässlichen Regelung im Umgang mit dem ungeborenen Leben in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes.

Der Faktor Donald Trump

Der andere Faktor heißt, was Wunder, Donald Trump. Obwohl seit über 22 Monaten nicht mehr im Amt, dominiert der New Yorker Geschäftsmann die Nachrichtenzyklen. Vorzugsweise durch mannigfache juristische Scharmützel, die dem 76-Jährigen nach der FBI-Razzia in seinem Domizil Mar-a-Lago in Florida demnächst sogar eine strafrechtliche Anklage durch das Justizministerium eintragen könnte. Trump trägt die Verantwortung für viele Kandidaten, die unter dem Schirm seiner expliziten Wahlempfehlung die internen Vorwahlen gewonnen haben - vor allem, weil sie lautstark in den Chor derer einstimmen, die Biden gegen alle gerichtsfeste Fakten für einen illegitimen Präsidenten halten.

Zum Leidwesen von Mitch McConnell: Der mächtigste Republikaner im Senat, wo sich 50 "Reps" und 50 "Dems" gegenüberstehen, bemängelte bereits im Sommer die politische Substanz in den eigenen Reihen und taxierte die Chance, im Oberhaus wieder die Oberhand zu gewinnen als allenfalls mittelmäßig ein.

Nur ein exemplarisches Beispiel: Im Südstaat Georgia stolpert der ehemalige American Football-Star Herschel Walker bei dem Versuch, dem Demokraten Raphael Warnock den Schneid abzukaufen, von einem Fettnäpfchen zum nächsten. Erst musste der sich als gottesfürchtig gebende Afro-Amerikaner die Existenz von drei unehelichen Kindern eingestehen. Später fiel sein Standpunkt als strikter Abtreibungsgegner (selbst bei Inzest oder Vergewaltigung) in sich zusammen, als eine Frau glaubhaft angab, Walker habe ihr vor über zehn Jahren einen Schwangerschaftsabbruch bezahlt. Selbst aus der eigenen Familie musste sich Walker als bigotter Lügner beschimpfen lassen.

Moore erwartet einen "Tsunami von Wählern"

Moore sieht auch darum einen "überwältigenden, beispiellosen Tsunami von Wählern" auf das politische System zurollen. Diese Menschen würden "gewaltlos, rechtlich einwandfrei und ohne Gnade jeden einzelnen stinkenden Verräter unserer Demokratie aussortieren". Moore denkt dabei zuvorderst an die rund 300 republikanischen Kandidatinnen und Kandidaten (für Washington, die Parlamente der Bundesstaaten und die Gouverneurs-Posten), die Trumps Lüge von der gestohlenen Wahl 2020 zu ihrer Bibel gemacht haben.

Dagegen stehen die Dinge für Biden und die Demokraten demoskopisch unbestreitbar ungünstig. 56 Prozent der Amerikaner sind unzufrieden damit, wie der 79-Jährige seinen Job macht - trotz niedriger Arbeitslosenquote. 80 Prozent, ein für ihn noch schlimmerer Wert, sehen ihr Land generell auf dem falschen Weg - wegen der mit über acht Prozent immernoch hohen Inflation, der nicht enden wollenden Flüchtlingskrise an der Grenze zu Mexiko, großzügigen Ausgabe-Geschenken des Staates (etwa für Studenten) und einer bedenklich hohen Kriminalitätsrate. 82 Prozent halten die Wirtschaftslage für mittelmäßig bis schlecht. Fast 70 Prozent sagen, dass es noch schlimmer wird. Stichwort: Rezession.

Bis zum Wahltag kann noch viel passieren

Bei solchen Zahlen, das ist das Eigenartige an dieser Vorwahl-Konstellation, müssten die Umfragen einen bevorstehenden Kantersieg für die Republikaner abbilden. Tun sie aber nicht. Das meinungsbildende Portal "Five-ThirtyEight" rechnet den Demokraten sogar die klitzekleine Chance aus, die Mehrheit in beiden Kongresskammern behalten zu können. Eine Kalkulation, die sich bis zum Wahltag am 8. November aber noch mehrfach ändern kann. Erst dann weiß man, ob Michael Moore wieder richtig lag.