Nach den Schein-Wahlen : Carte Blanche für Putin
Amtsinhaber Wladimir Putin gewinnt die russischen Präsidentschaftswahl mit 87,3 Prozent. Oppositionelle sprechen von massiven Fälschungen bei den Stimmen für Putin.
Wladimir Putin beim Antritt seiner sechsten Amtszeit als Präsident Russlands. Die EU spricht der jüngsten Wahl die Rechtmäßigkeit ab.
Sergej sagt, er habe "Putin ist ein Mörder!" auf seinen Stimmzettel geschrieben. Der Manager gehört zu den Moskauern, die am Sonntag um 12 Uhr mittags zum Wahllokal gegangen sind, um in langen Warteschlangen gegen Wladimir Putin und seine Präsidentschaftswahlen zu demonstrieren. Er sei hingegangen, weil er Putins Herrschaft beenden wolle, sagt er.
Nach den Präsidentschaftswahlen vom 15. bis zum 17. März stellten Oppositionelle Dutzende Fotos von Stimmzetteln mit diesen Worten ins Internet. Laut dem Rechtsschutzportal OWD-Info wurden allein am Sonntag über 89 Personen festgenommen. Es erwischte auch Wahlbeobachter, die wegen des stapelweisen Einwurfs von Stimmzetteln Alarm geschlagen hatten. Die Wahlbetrüger selbst blieben unbehelligt. So wie die Chefs der Staatsbetriebe, die über die neue App "Dobrinja" das Wahlverhalten ihrer Belegschaften kontrollierten. Oder die Programmierer des digitalen Wahlsystems, das es in 29 Regionen den Online-Wahlbeobachtern unmöglich machte, Stimmabgabe und Auszählung zu kontrollieren. Drei oppositionelle Experten kamen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, 22 Millionen von knapp 65 Millionen Stimmen für Putin seien gefälscht. Und laut der Wahlbeobachtergruppe Golos war "die Äußerung des freien Willens der Wähler" bei dieser Abstimmung unmöglich.
Rekordergebnis von 87,3 Prozent
Putin gewann mit dem offiziellen russischen Rekordergebnis von 87,3 Prozent. Vielen Russen stellte sich die Frage, ob dieses schwindelerregende Ergebnis nicht schon dramatische Änderungen für das Land bedeutet. Sergej und andere Moskauer, die sich am Sonntag in den Minuten nach 12 Uhr in die russischen Wählerlisten eintrugen, bestätigten, sie hätten Angst, von dort auf die schwarzen Listen der Sicherheitsorgane zu geraten. "Es wird Repressalien nach den Präsidentschaftswahlen geben", prophezeite das Exilportal Medusa. Putin selbst forderte den Staatssicherheitsdienst FSB am Dienstag zu "offensiven Maßnahmen" auf. Alle Versuche, Unruhen und zwischennationale Konflikte zu schüren, seien mit Härte zu durchkreuzen. Aber ein liberaler Moskauer Politologe glaubt nicht an die Rückkehr des stalinschen Terrors. "Wenn die Behörden die zehntausenden Teilnehmer an der 12 Uhr-Mittagsaktion einsperren wollen, fehlt ihnen dazu ganz banal das Personal". Eher würden sich die Sicherheitsorgane wie bisher darauf beschränken, besonders laute Oppositionelle zu verhaften, um die übrigen einzuschüchtern.
Neue "Nationalprojekte" angekündigt
Putins Regime bleibt populistisch, er selbst kündigte Ende Februar fünf neue "Nationalprojekte" an: "Langes und aktives Leben" "Familie", "Jugend Russlands", "Kader" und "Datenwirtschaft". Laut einer Schätzung des Exilportals Cholod würden seine Versprechen zwischen umgerechnet 75 bis 170 Milliarden Euro kosten. Das wiederum befeuerte die Ängste vor Steuererhöhungen. Nach ersten Stellungnahmen aus Regierungskreisen wird die Einkommensteuer bei einem Jahreseinkommen von umgerechnet 10.000 bis 50.000 Euro von 13 auf 15 Prozent steigen, für Besserverdienende von 15 auf 20 Prozent. Das klingt glimpflich, dürfte andererseits aber kaum ausreichen, um monumentale "Nationalprojekte"zu finanzieren. Fraglich ist auch, ob sie den stagnierenden Alltag der Russen groß verändern werden. Vor allem die Provinzrussen sind es seit Jahrzehnten gewohnt, dass ihr Land im Staats-TV immer prachtvoller wird, die Schlaglöcher vor der Haustür aber nicht verschwinden. "Einerseits hat Putin sich mit dem Wahlergebnis selbst eine Carte Blanche ausgestellt", sagt der Moskauer Politologe. "Aber andererseits hat sein Sieg nur den Status quo bestätigt."
Putin selbst richtete am Wahlabend sein Augenmerk auf die Ukraine: "Vor allem müssen wir die Aufgaben der Kriegsspezialoperation lösen, die Verteidigungsfähigkeit und die Streitkräfte stärken." Er drohte mit einer Großoffensive, um in der Ostukraine eine "Sicherheitszone" einzurichten. Und er hält sich die Möglichkeit auf eine neue Teilmobilisierung hunderttausender Wehrpflichtiger offen - wie im Herbst 2022. Aber Experten wiegeln ab. Eine Mobilisierungswelle sei unwahrscheinlich, sagt der Militärexperte Viktor Litowkin, Freiwillige und Vertragssoldaten bewältigten die Aufgaben auch so.
Trotz allem Propagandajubels glüht Russland keineswegs vor Kriegsbegeisterung. Die Leute wollten ihr Einkommen haben, ihre Rente und eine Zukunft in Ruhe, schimpft die linientreue Massenzeitung Moskowskij Komsomoljez als Antwort auf einen Artikel des Ultranationalisten Alexander Dugin, der die totale Mobilisierung fordert. "Aber man bietet ihnen Kampf und Gürtelengerschnallen ohne Ende an, in einer antiutopischen Gesellschaft." Laut Lewada-Meinungsforschungszentrum sind nur noch 39 Prozent der Russen für eine Fortsetzung der Kampfhandlungen. Auch als 87-Prozent-Sieger muss Putin die Stimmung der schweigenden Mehrheit einkalkulieren.