Proteste in China : Die Kraft weißer Blätter
Die Wut über Pekings strikte Null-Covid-Politik hat erstmals seit Jahrzehnten zu landesweiten Protesten geführt. Die Parteiführung reagiert mit Drohungen.
Zum Pekinger Botschaftsviertel sind sie gezogen. Dorthin, wo Journalisten und Diplomaten schon nach wenigen Minuten die historische Dimension jener Sonntagnacht Ende November erkennen: Erstmals seit Jahrzehnten protestiert die Jugend der Hauptstadt wieder für politischen Wandel.
Ihr subversives Symbol, das sie hundertfach in die bitterkalte Luft halten, ist ein leeres Blatt Papier. Die Botschaft hinter den weißen DIN-A4-Zetteln versteht jeder der Anwesenden auf Anhieb: Angesichts der rigiden Zensur muss die eigene Kritik unbeschrieben bleiben.
Bürger wollen sich nicht der Staatspartei unterordnen
Doch verbal lassen die Pekinger keinen Zweifel daran, was sie fordern. "China ist ein Land, keine Partei", schreit eine kleine Frau immer wieder in die Menschenmenge. Sie trägt keine Maske, dutzende Polizisten starren ihr ins Gesicht. Auch die Überwachungskameras nehmen die Szene auf.
Doch die Chinesin hat keine Angst, genauso wenig wie die Massen um sie herum. "Das Land gehört unserem Volk, nicht ihnen!", ruft ein Mann unter tosendem Beifall, während die Polizei bereits in Mannschaftsstärke angerückt ist. Doch noch schreitet sie nicht ein.
Protest gegen die drakonische "Null Covid"-Politik
Zum letzten Mal kam es 1989 in China zu breiten politischen Protesten. Die Studentenbewegung vom Tiananmen-Platz, die gegen Korruption und für politische Mitbestimmung stand, wurde schließlich von den anrollenden Panzern der Volksbefreiungsarmee blutig niedergeschlagen.
Über 30 Jahre später ist es die drakonische "Null Covid"-Politik, gegen die die vorwiegend jungen Menschen auf die Straße ziehen. Doch vielen, insbesondere den Demonstranten in Shanghai, geht es um sehr viel mehr: "Nieder mit Xi Jinping, nieder mit der Partei!", rufen sie. Für eine Gesellschaft, in der die meisten den Namen ihres autoritären Staatschefs nicht einmal im Flüsterton auszusprechen wagen, ist dies geradezu unerhört.
Wenig überraschend rollen am nächsten Tag bereits die Polizisten an, sperren ganze Straßenzüge ab und filzen jeden, der "verdächtig" aussieht. Smartphones werden von den Sicherheitskräften einkassiert, kritische Fotos und westliche Apps gelöscht.
Anschließend machen die Behörden dank ihrer digitalen Überwachungsmethoden die Teilnehmer der Demos ausfindig - dabei dienen ihnen zynischerweise ebenjene "contact tracing"-Maßnahmen, die in China während der Pandemie implementiert wurden.
In der Hauptstadt Peking sind diese besonders ausgefeilt: Jeder Gang zum Supermarkt wird mit einem "Gesundheitscode" am Smartphone digital registriert. Alle drei Tage muss sich die Bevölkerung vor den PCR-Teststationen anstellen, um weiter am sozialen Leben teilnehmen zu dürfen.
Die unvorhersehbaren Lockdowns haben das Fass zum Überlaufen gebracht
Und auch vor den Wohnanlagen wachen Männer mit roten Armbinden sowie Kameras, die die Körpertemperatur eines jeden Passanten registrieren. Lange wurden jene Maßnahmen, die immer exzessiver in den Alltag eingriffen, mit stoischer Resignation mitgetragen - nicht wenige waren auch von ihrer Notwendigkeit überzeugt.
Doch die unvorhersehbaren und medizinisch kaum begründbaren Lockdowns haben das Fass zum Überlaufen gebracht. Es reichte bereits ein "Verdachtsfall", damit ganze Siedlungen mehrere Tage abgeriegelt wurden. In China bedeutet das: Metallgitter werden angebracht, manchmal auch Eisenschlösser an den Türen.
Mindestens zehn Menschen verloren bei einem Hochhausbrand ihr Leben
Ende November schließlich kam es zur Tragödie, die die Menschen emotional aufgewühlt hat. In Ürümqi, der Hauptstadt des nordwestlichen Xinjiang, war in einem Wohnhochhaus ein Feuer ausgebrochen. Mindestens zehn Menschen verloren dabei ihr Leben.
Wie in den sozialen Medien millionenfach behauptet, waren sie Opfer der exzessiven Lockdowns geworden: Viele Anwohner hätten wegen verschlossener Türen und Einschüchterung der Behörden nicht rechtzeitig ins Freie gelangen können, heißt es. Auch die Rettungswagen brauchten quälend lange, mussten sie sich doch ihren Weg durch Metallzäune und Straßensperren kämpfen.
Protest hat praktisch das gesamte Land erfasst
Nur wenige Stunden dauerte es, dann versammelten sich die ersten Menschenmassen: zuerst im bereits seit 100 Tage abgeriegelten Ürümqi, später in den Universitäten, dann im ganzen Land. Dutzende solcher, meist kleiner Proteste wurden in nahezu allen Teilen Chinas registriert - ehe die Videoaufnahmen sofort von der Zensur gelöscht wurden.
Der Politikwissenschaftler William Hurst von der Cambridge-Universität hält die Demonstrationen für "neuartig", wie er auf seinem Twitter-Account analysiert. Seit dem Tiananmen-Massaker 1989 kam es allenfalls zu lokal begrenzten Protesten - etwa gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen in einzelnen Fabriken oder gegen die Inkompetenz einer Kommunalbehörde. Diesmal jedoch ist der Protest breiter und hat praktisch das gesamte Land erfasst.
Der Staat versucht die Leute zu besänftigen
Der Staat reagiert zwar mit Einschüchterungstaktiken und Verhaftungen, aber nicht nur. Er versucht auch, den Frust der Leute abzulenken und zu besänftigen. So werden die unmenschlichen Lockdowns erst als Folge inkompetenter Nachbarschaftskomitees dargestellt, nicht jedoch als Fehler der Regierungspolitik. Inzwischen hat Peking tatsächlich einige Maßnahmen gelockert: Mitte vergangener Woche erklärte Vize-Premier Sun Chunlan, dass man nun in "ein neues Stadium" der Pandemie-Maßnahmen eingetreten sei.
Doch gerade den jungen Leuten in den großen Städten geht es um mehr. Sie wollen Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit und vor allem ein Ende der ständigen Gängelung durch die Partei.
Junge Menschen erhalten Drohanrufe von der öffentlichen Sicherheit
Jene Forderungen, das wird schon bald deutlich, treffen im Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai aber auf taube Ohren. "Wir müssen hart gegen Infiltration und Sabotage feindlicher Kräfte durchgreifen", heißt es in einer ersten Stellungnahme der Partei.
Sie liest sich wie eine Warnung, die sich für viele auch schnell bewahrheitet: Junge Menschen erhalten Drohanrufe von der öffentlichen Sicherheit, andere bekommen Druck von ihrem Arbeitgeber. Die Botschaft ist klar: Wer weiter protestiert, überschreitet eine rote Linie und muss mit Haftstrafen rechnen.
Die Taktik scheint aufzugehen: Seit vergangenem Sonntag ist es in Peking zu keinen größeren politischen Protesten mehr gekommen. Die kritischen Stimmen der Menschen scheinen erneut verstummt. Die Gründe für ihre Wut sind jedoch keineswegs verschwunden.
Der Autor ist freier China-Korrespondent und lebt in Peking.