Entwaldung in Brasilien : Retter gesucht
Der Regenwald spielt eine Schlüsselrolle beim Erhalt der Artenvielfalt. Brasiliens neuer Präsident Lula weckt Hoffnungen auf eine Trendumkehr.
Der Amazonaswald erstreckt sich über neun Länder Südamerikas und beherbergt mehr als die Hälfte des verbleibenden tropischen Regenwalds der Erde. Der Dschungel ist Heimat für einen unvergleichlichen Artenreichtum: 40.000 Pflanzenarten, 2.200 Fischarten, 1.294 Vogelarten, 427 Säugetierarten, 428 Amphibien und 378 Reptilien wurden dort identifiziert. Die Zahl der Baumarten wird auf 16.000 geschätzt, die der Insektenarten gar auf 2,5 Millionen. Jede fünfte Vogelart und jede fünfte Fischart der Erde ist im Amazonasbecken beheimatet. Der Amazonaswald spielt also eine Schlüsselrolle, wenn es um den Erhalt der Artenvielfalt auf unserer Erde geht.
Doch er wird massiv bedroht durch verschiedene wirtschaftliche Aktivitäten. Obwohl die Abholzung in allen Ländern der Amazonasregion voranschreitet - von Venezuela über Kolumbien, Ecuador und Peru bis Bolivien - ist sie nirgendwo so dramatisch wie in Brasilien, das 62 Prozent des Amazonasbeckens umfasst. Eine aktuelle Statistik macht die Relationen deutlich: Während im Jahr 2018 in Bolivien rund 300.000 Hektar Wald verloren gingen, und das Land damit in Südamerika an zweiter Stelle bei der Abholzung lag, waren es in Brasilien 1,5 Millionen Hektar. Brasilien ist somit für 80 Prozent der Entwaldung verantwortlich.
Grund für die Abholzung: Ausdehnung der Viehwirtschaft und des Soja-Anbaus
Die Abholzung hat in erster Linie mit der Ausdehnung der intensiven Landwirtschaft zu tun - insbesondere der Viehwirtschaft und des Soja-Anbaus. Die Landwirte rücken immer aggressiver von Süden her in das Amazonasbecken vor und verschieben die sogenannte "fronteira agraria", die Agrargrenze, nach Norden. Die Landwirtschaft breitet sich zudem entlang von Straßen aus, die durch den Wald führen. Der Straßenbau gehört damit zu den größten Bedrohungen für Amazonien.
Eine wichtige Rolle spielt die Holzmafia, die illegal mit Tropenholz handelt, das auf dem Weg zum Verbraucher umdeklariert wird. Häufig holen die Holzfäller nur die großen, wertvollen Bäume aus Waldstücken heraus, was bei der Luftüberwachung weniger auffällt, aber den betroffenen Wald stark schwächt und zum Verlust seiner Vielfalt führt. Auch die Landspekulation ist ein bedeutender Faktor: Öffentliche Ländereien werden illegal besetzt, gerodet, parzelliert und zum Kauf angeboten, häufig mit gefälschten Dokumenten. Die Spekulanten setzen darauf, dass der Staat irgendwann die geschaffenen Fakten anerkennt und die Ländereien legalisiert.
Illegale Goldsuche in Umweltschutzgebieten und Reservaten
Stark zugenommen hat auch die illegale Suche nach Gold. Der Waldboden wird aufgerissen und metertief ausgewaschen. Zehntausende illegale Goldsucher, die von finanzkräftigen Hintermännern unterstützt werden, dringen seit einigen Jahren immer ungenierter in Umweltschutzgebiete und in die Reservate der indigenen Bevölkerung ein. Die Goldsuche verseucht die Flüsse, weil mit dem Schwermetall Quecksilber gearbeitet wird, das zu schweren Nervenkrankheiten führen kann. In vielen Flussgemeinden haben die Menschen ihre Essgewohnheiten bereits geändert: kaum noch Fisch, dafür mehr Rind und Huhn.
Die Goldsucher übertragen zudem Krankheiten auf Brasiliens Ureinwohner, sie bedrohen sie und zwingen sie zur Prostitution. Auch Morde an Indigenen hat es gegeben. Zwischen 2010 und 2021 wuchs die Fläche der illegalen Goldminen in den Reservaten um 632 Prozent. Ein weiterer negativer Faktor sind illegale Jäger und Fischer. Sie töten Affen, Tapire, Wildschweine und andere Säugetiere und fangen begehrte Fische und Schildkröten. Auch hier steckt oft das organisierte Verbrechen dahinter, eine Fischermafia ist beispielsweise für den Doppelmord an dem brasilianischen Indigenisten Bruno Pereira und seinem Begleiter, dem britischen Reporter Dom Phillips, im Juni 2022, verantwortlich. Die Täter fingen den geschützten und wegen seines festen Fleischs beliebten Riesenfisch Pirarucu in dem Indigenenreservat Vale do Javari an der Grenze zu Peru. Pereira und Phillips störten ihre Geschäfte.
Studien haben gezeigt, dass der Dschungel nirgends intakter und die Artenvielfalt größer ist als in den Reservaten.
In den vergangenen vier Jahren haben sich die beschriebenen Widersprüche im Amazonasbecken stark zugespitzt. Dazu trug der im November 2022 abgewählte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro enorm bei. In seiner Vorstellung von Entwicklung schließen sich wirtschaftlicher Fortschritt und Umweltschutz gegenseitig aus. Von "Scheiß-Bäumen", die im Weg stünden, sprach er einmal. Als Präsident machte Bolsonaro nie einen Hehl aus seiner Verachtung für die brasilianischen Ureinwohner, die für ihn unproduktiv und wie "Tiere im Zoo" seien. Er hielt sein Versprechen an die Agrarindustrie, dass unter ihm "kein Zentimeter" mehr für neue Indigenenreservate ausgewiesen werde. Studien haben jedoch gezeigt, dass der Dschungel nirgends intakter und die Artenvielfalt größer ist als in den Reservaten.
Unter Bolsonaro war Ricardo Salles Umweltminister, dessen Ziel die "Flexibilisierung" der Umweltgesetzgebung war, sprich: Sie sollte vorteilhafter für Wirtschaft und Industrie gestaltet werden. Die Behörden zum Schutz der Umwelt, Ibama und ICMBio, sowie zum Schutz der Indigenen, Funai, wurden dann systematisch geschwächt. Die Regierung strich ihnen Gelder, Kompetenzen und Personal und besetzte Schlüsselpositionen mit Militärs ohne entsprechende Qualifikationen. Dadurch wurde der Schutzauftrag der Behörden praktisch in sein Gegenteil verkehrt. Die Bolsonaro-Regierung schwächte den Staat, wovon illegale Akteure profitierten. Die Konsequenz war der Anstieg der Abholzung um mehr als 70 Prozent in Bolsonaros Amtszeit.
Hoffnungen in Brasiliens neuer Präsidenten Lula
Inzwischen gelten fast 20 Prozent des gesamten südamerikanischen Regenwaldes als zerstört. Das ist umso beunruhigender, weil Wissenschaftler wie der mittlerweile verstorbene US-Klimaforscher Thomas Lovejoy und sein brasilianischer Kollege Carlos Nobre davor gewarnt haben, dass bald ein Kipppunkt erreicht sein könnte. Das empfindliche Ökosystem Regenwald mit seinem Kreislauf aus Niederschlägen, Verdunstung, Wolkenbildung und erneuten Niederschlägen könne sich dann nicht mehr aufrechterhalten, und die Region würde versteppen. Dies hätte nicht nur für das Klima unvorhersehbare katastrophale Folgen, sondern wäre auch das Ende für Tausende endemische Tier- und Pflanzenarten, die auf das Leben im Regenwald spezialisiert sind.
Hoffnungen auf eine Trendumkehr weckt Brasiliens neuer Präsident Luis Inácio Lula da Silva. Er hat versprochen, die Abholzung im Amazonas auf Null zu senken, ein eher unrealistisches Ziel. Dennoch zeigt es, dass Lula das Thema ernst nimmt und erkannt hat, dass eine moderne Wirtschaft in Amazonien auf Nachhaltigkeit beruhen muss. Er scheint auch die Warnungen aus der EU ernst zu nehmen, die stärker darauf achten will, ob Soja- und Fleischimporte aus Gegenden stammen, in denen kurz zuvor noch Regenwald stand. Ein Blick zurück stimmt zuversichtlich. In Lulas beiden Amtszeiten zwischen 2003 und 2011 nahm die Abholzung um 67 Prozent ab, weil die Umweltschutzbehörden gestärkt wurden. Zeitgleich fand ein wirtschaftlicher Aufschwung mit neuen Arbeitsplätzen in Industrie und Service statt, der den Druck auf die Amazonasregion verringerte. Lula möchte diese Erfolge wiederholen. Er will zudem ein Ministerium für indigene Belange gründen.
Letztendlich wird der Schutz des Amazonasbeckens davon abhängen, ob es gelingt, die unter Bolsonaro in Gang gesetzte Dynamik der Zerstörung zu durchbrechen. Dies wird nur über eine konsequente Durchsetzung der Umweltgesetze sowie die Schaffung von alternativen Einkommensmöglichkeiten für die arme landlose Bevölkerung gelingen, die sonst ihr Glück im Amazonasbecken sucht, sei es als Goldsucher, Jäger, Holzfäller oder Viehzüchter.
Der Autor ist freier Journalist und lebt in Rio de Janeiro, Brasilien