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Politische Bildung : Bewährungsprobe für die Demokratie

Bundesweit organisieren die parteinahen Stiftungen Veranstaltungen. Ein Ortsbesuch bei einem Vortrag von Wolfgang Thierse bei der Konrad-Adenauer Stiftung.

06.03.2023
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4 Min

"Wir sind hier doch nicht in Berlin, das muss doch klappen", scherzt Wolfgang Thierse mit Blick auf das Ersatzmikrofon, das provisorisch an seinem Rednerpult befestigt wurde. Mehr als 600 Kilometer von der Bundeshauptstadt entfernt hält der Sozialdemokrat und ehemalige Bundestagspräsident auf Einladung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) und des Forums Bürgerkirche Sankt Gangolf in Trier einen Vortrag. Solche Veranstaltungen gehören zum Kernauftrag der politischen Stiftungen. Sie finden bundesweit jede Woche dutzendfach statt. Das Thema des Abends in Trier: Die Herausforderungen in unserer pluralistischen Gesellschaft.

Foto: picture alliance/dpa/Annette Riedl

Wolfgang Thierse (SPD) war Bundestagspräsident von 1998 bis 2005.

Zwischen Brillenladen und Kebab-Haus liegt das kleine, aber reichlich verzierte Eingangstor, durch das die Besucher gehen müssen, um zur Kirche zu gelangen. Das Kirchenschiff ist gut gefüllt. Da die eigentliche Bestuhlung nicht ausreicht, stehen Klappstühle bereit. Neben dem Thema sei es auch einfach spannend, den früheren Parlamentspräsidenten reden zu hören, schildert eine Besucherin aus Bitburg ihre Motivation, an diesem Abend zu dem Diskussionsabend mit Thierse zu kommen.

Es dürfe nicht vergessen werden, dass man sich hier noch auf einer Baustelle befinde, bittet Philip Lerch, Chef der KAS Rheinland-Pfalz, mit Blick auf die Mikrofonanlage entschuldigend. Zwei Jahre lang ist Sankt Gangolf umfassend renoviert worden.

Unruhige Zeiten

Nachdem einige Nachjustierungen vorgenommen wurden, das Rednerpult an den hintersten Rand der Bühne verschoben wurde und das Publikum nickend die Lautstärke absegnet, kann die Veranstaltung beginnen. Lerch steht auf der Bühne, in der einen Hand das Mikrofon, in der anderen einen Granatsplitter aus der Schlacht von Verdun. Dieser sei eine Erinnerung daran, dass dort während des Ersten Weltkriegs alle 45 Sekunden ein Soldat sein Leben verlor. "Was haben wir seitdem gelernt?", fragt er das Publikum. Denn auch heute würden wieder Granaten in Europa eingesetzt werden. "Nichts", murmelt eine Frau in einer der vorderen Reihen resigniert. Die Welt befindet sich Lerch zufolge in großer Unruhe.

Was Auslöser für diese Unruhe ist, führt Thierse in seinem Vortrag aus. Klimawandel, Migration, eine veränderte Arbeitswelt, kriegerische Konflikte: All diese Herausforderungen fänden gleichzeitig statt und würden nicht nur die Weltordnung, sondern auch den Zusammenhalt in Deutschland vor große Herausforderungen stellen: "Wir erleben eine Welt in Unordnung, eine zerrüttete Gesellschaft". Die Menschen seien verunsichert, sehnten sich nach Halt. Jetzt werde sich zeigen, ob unsere Demokratie, die unter anderem auf der Grundlage von wirtschaftlichem Wachstum fuße, eine "Schönwetter-Demokratie" sei, sagt Thierse.

Verhärtete Fronten

Die Stimmung in der Bundesrepublik, hat er registriert, ist aggressiver geworden. Er spricht gar von einem "Kulturkampfklima", das sich seinem Empfinden nach in den vergangenen Jahren immer weiter zugespitzt habe, und bezieht sich dabei auch auf seine eigenen Erfahrungen.

Vor rund zwei Jahren äußerte Thierse seine Sorge, dass eine sich radikalisierende Identitätspolitik von rechts und links zu einer Spaltung der Gesellschaft führe. Besonders seine Aussagen zur sogenannten Cancel Culture polarisierten damals. Vorgehalten wurde ihm unter anderem, das strukturelle Problem hinter der Benachteiligung von Minderheiten zu verkennen. Mehr als 1.000 Zuschriften hätten ihn seitdem erreicht, sagte Thierse. Seine Sorge, dass die gesellschaftliche Spaltung weiter zunimmt, ist trotz der Diskussion nicht gewichen. Als Beispiel führt er an, dass bestimmte Worte tabuisiert seien oder Museen ihre Sammlungen überarbeiten müssten.


„Vielfalt erzeugt nicht von selbst Gemeinschaftlichkeit und sozialen Zusammenhalt.“
Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagspräsident a.D.

Thierse, der 1990 zunächst Vorsitzender der Sozialdemokraten in der DDR war und lange Jahre SPD-Vize, kritisiert die verhärteten Fronten in der Debatte. Wer etwas für Minderheiten verändern wolle, müsse Mehrheiten finden: "Je aggressiver die Kritik, desto geringer die Chance und Bereitschaft zu selbstkritischer Reflektion und Korrektur". Doch diese Bereitschaft zum Zuhören und zum Kompromiss brauche es in der pluralistischen Gesellschaft. "Vielfalt erzeugt nicht von selbst Gemeinschaftlichkeit und sozialen Zusammenhalt", sagt Thierse an diesem Abend gleich mehrfach. Deutschland sei mittlerweile ein Migrationsland, die Gesellschaft werde immer pluralistischer, und so müssten auch die gegenseitigen Bemühungen, eine Gemeinschaft zu bilden, immer stärker werden. Religion und kulturelle Traditionen als verbindende Kräfte seien immer unwichtiger geworden. Dennoch müsse auch die Kirche als Dialogpartner in der Frage mitmischen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, sagt Thierse, der lange dem Zentralkomitees der deutschen Katholiken angehörte.

Zeit für Fragen

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Seinem Vortrag folgt die Diskussion. Es dauert einen Moment, bis sich die ersten Zuhörenden bemerkbar machen, doch dann entsteht ein reger Austausch. Anfangs hält Thierse Papier und Stift in der Hand, nach den ersten Fragen legt er diese beiseite, antwortet direkt. "Scholz sei eben ein richtiger Norddeutscher", entgegnet er etwa einer Zuhörerin, die die Politikverdrossenheit auf fehlende Kommunikation der Bundesregierung zurückführen will. Es stimme nicht, dass der Kanzler nicht kommuniziere; die Leute müssten aber auch zuhören wollen, mahnt Thierse. Ihm haben sie an diesem Abend aufmerksam zugehört, wird er später resümieren. Ein gutes Zeichen? Der Einladung der KAS sind zumeist ältere Semester gefolgt - von gesellschaftlicher Pluralität war der Abend nicht geprägt.