Streitthema Inklusion : Inklusive Schulen: Ein Ziel – 16 Landesgesetze
Trotz Kritik der UN setzt Deutschland weiterhin auf Förderschulen. Wie selbstverständlich ein inklusiver Schulalltag aussehen könnte, macht Norditalien vor.
Projektarbeit statt Frontalunterricht, individualisierte Lernförderung und gemeinsame Klassen für Kinder mit und ohne Beeinträchtigung. Damit die Studierenden von Kerstin Merz-Atalik praktisch erfahren, wie selbstverständlich ein inklusiver Schulalltag ablaufen kann, fährt die Professorin der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg einmal im Semester auf Exkursion nach Norditalien. Dort verfolgen die Schulen im deutschsprachigen Raum seit über zwanzig Jahren einen inklusiven Ansatz. Jedes Kind - egal ob mit oder ohne Beeinträchtigung - besucht die achtjährige Grund- und Mittelschule, berichtet sie. Durch diesen Ansatz entspricht die Region den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention.
Deutschland ratifiziert Konvention im März 2009
Diese verpflichtet Staaten, Menschen mit Behinderung gleiche Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Mit Blick auf den Bildungsbereich bedeutet dies unter anderem, dass niemand "aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden" darf.
Auch Deutschland hat die Konvention im März 2009 ratifiziert und sich diesem Ziel verschrieben. Dennoch sieht der Schulalltag hierzulande oftmals noch anders aus, als ihn die Studierenden von Merz-Atalik in Norditalien kennenlernen. Trotz Ermahnung durch den zuständigen UN-Fachausschuss gibt es in Deutschland ein separierenden Schulsystem. Ein großer Teil der rund 570.000 Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf (Stand 2021) wird immer noch auf Sonder- oder Förderschulen beschult. Lediglich 44 Prozent besuchen eine Regelschule. "Dass wir in Deutschland diese Kinder nicht nur separieren, sondern zusätzlich nach den unterschiedlichen Förderschwerpunkten unterteilen, stößt bei den Kollegen aus Italien auf Unverständnis", sagt Merz-Atalik. Für die Jugendlichen hat der Besuch der Sonderschule weitreichende Konsequenzen. Sie sind nicht nur vom Rest der Gesellschaft isoliert, sondern können auch keinen anerkannten Schulabschluss machen, sind dadurch weniger qualifiziert und haben somit Schwierigkeiten, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
Laut Merz-Atalik bremsen unter anderem die föderalen Strukturen die Inklusionsbestrebungen Deutschlands. Jedes Bundesland hat ein eigenes Schulgesetz und entscheidet selbst, wie es die Anforderungen der Konvention umsetzt - mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen.
Große Unterschiede in den Bundesländern
Dies zeigt eine Studie des Bildungsexperten Klaus Klemm für die Bertelsmann-Stiftung. Während einige Bundesländer wie Bremen, Hamburg oder Berlin den Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine Sonderschule besuchen, gemessen an der Gesamtschülerschaft stark reduziert haben, ist die sogenannte Exklusionsquote in anderen Bundesländern sogar gestiegen. So lag sie in Baden-Württemberg für das Schuljahr 2020/2021 bei 5,03 Prozent; 2008/09 waren es noch 4,5 Prozent.
Dass der inklusive Ansatz flächendeckend nur schleppend umgesetzt werde, habe vor allem mit dem hiesigen Schulsystem zu tun, sagt Merz-Atalik. Während die Mehrheit der Länder wie Italien schon jahrelang auf das Konzept Gemeinschaftsschule setzen und dadurch eine gewisse Erfahrung haben, heterogene Lerngruppen zu unterrichten, hält Deutschland an den Prinzipien der frühen Trennung und des dreigliedrigen Schulsystems fest. Dies lasse wenig Raum für individuelle Bedürfnisse: "Jedes Schulsystem ist nur so gut, wie es auf die individuellen Anforderungen des Einzelnen eingehen kann", kritisiert Merz-Atalik.
An inklusiven Schulen lernt jeder auf seinem Niveau
In Schweden würden beispielsweise auch Kinder mit schwerer Mehrfachbehinderung auf eine Gemeinschaftsschule gehen. Dort habe jede Schülerin und jeder Schüler Anspruch auf einen individuellen Lernplan, der ihren oder seinen Anforderungen entspreche.
Auch in Norditalien wird gemeinsam gelernt. Während die einen mit einem Maßband den Umfang eines Gegenstands ablesen, machen die anderen sich an die Volumenberechnung. So könne jeder auf seinem Niveau zum Lerngegenstand beitragen, berichtet Merz-Atalik. Um inklusiven Unterricht zu ermöglichen, brauche es vor allem eines: ausreichend geschultes Personal. Jede Schule müsse eine "Grundversorgung" mit sonder- oder inklusionspädagogischen Fachkräften" haben, um den inklusiven Ansatz umsetzen zu können, fordert Merz-Atalik. Auf rund 600 Millionen Euro wird allein der Mehrbedarf an Lehrpersonal für inklusiven Unterricht an Regelschulen geschätzt, heißt es in einer Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2012. Experten zufolge sei dies langfristig jedoch immer noch günstiger als weiterhin ein aufwendiges Parallelsystem aus Regel- und Sonderschulen zu finanzieren.