Editorial : Anständiger Streit
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas erinnert an einen anständigen Umgang miteinander im Bundestag. Anständiger Streit tut dem Parlament gut.
Sollte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am Dienstag gedacht haben, dass sie mit ihrem Appell an den Anstand im Bundestag alle Abgeordneten erreicht hätte, musste sie schon einen Tag später feststellen, dass dem nicht so ist. Bereits zur Hälfte der Wahlperiode liege die Zahl der Ordnungsrufe im Bundestag weit über dem Niveau vergangener Perioden, sagte Bas bei der Eröffnung der Haushaltswoche. Der Bundestag habe eine Vorbildfunktion für das Führen von Debatten, "wer beschimpft und beleidigt, redet außerhalb des argumentativen Diskurses". Kaum 24 Stunden später erhält Stephan Brandner (AfD) den nächsten Ordnungsruf: "Wie kann so eine Pfeife wie Sie Landesgruppenchef sein?", vermerkt das Plenarprotokoll als Zwischenruf von ihm bei der Rede von Alexander Dobrindt (CSU). Ohne Beleidigungen geht es offenbar nicht bei jedem.
Der Schlagabtausch zwischen dem Bundeskanzler und dem Oppositionsführer im Bundestag hat aber gezeigt, dass der Regelfall der Debatte ein anderer ist: Sehr hart in der Sache, anständig im Umgang miteinander. Die Zeiten, in denen keine Unterschiede zwischen den Parteien mehr erkennbar waren, sind vorbei. Ob Bürgergeld, Bundeswehr, Klimapolitik oder Migrationsfragen und Grenzkontrollen: Die unterschiedlichen Vorstellungen über den vermeintlich richtigen Weg wurden in allen Punkten sehr deutlich.
Bereits 50 Ordnungsmaßnahmen in dieser Legislaturperiode
Dass der Streit über eine politische Frage sichtbar wird, ist eine wichtige Funktion von Parlamenten. Die SPD-Abgeordnete Wiebke Esdar brachte dies mit einem Zitat des verstorbenen Alt-Bundeskanzlers Helmut Schmidt auf den Punkt: "Demokratie und Streit gehören zusammen. Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine Demokratie." Streit wird es deshalb auch um den Vorschlag von Bundeskanzler Olaf Scholz für einen Deutschlandpakt geben und wie man diesen ausgestaltet. Der Kanzler möchte dort eine nationale Kraftanstrengung der Bündelung aller politischen Kräfte, um "unser Land schneller, moderner und sicherer" zu machen. Es gehe um "Tempo statt Stillstand, Handeln statt Aussitzen, Kooperation statt Streiterei".
Vielleicht ist ein anständiger Streit gar nicht das Problem. Ein Streit mit klaren Worten und einer klaren Haltung, die mit Würde und Anstand vertreten wird. Dann bräuchte die Statistik zur Mitte der Wahlperiode nicht bereits die exakt 50. Ordnungsmaßnahme zählen.