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Foto: picture alliance/dpa
Die Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus stand im Zeichen der generationenübergreifenden Aufarbeitung des Holocaust.

Holocaust-Gedenken im Bundestag : "Deutschland darf nicht schweigen"

In der Gedenkstunde anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus appellieren Eva Szepesi und Marcel Reif an die Verantwortung der Gesellschaft.

01.02.2024
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5 Min

So gut gefüllt und gleichzeitig so absolut still ist der Plenarsaal des Deutschen Bundestages nur sehr selten. Als die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi am Mittwochmorgen am Arm des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier das Plenum betritt, ist außer dem Kameraklicken der Pressefotografen kein Laut zu vernehmen. Das andächtige Schweigen anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus liegt kurz, aber schwer über dem Hohen Haus, bis ein Stück von Ferenc Weisz, dargeboten von Studierenden der Universität der Künste, den weiten Saal mit Musik füllt.

So angemessen diese Stille ist, so wenig gilt das für das Schweigen gegenüber dem alten und dem neuen Antisemitismus in Deutschland: Das betonen sowohl Szepesi als auch Marcel Reif, der als zweiter Gastredner in diesem Jahr während der Gedenkstunde spricht.

Szepesi hat als Zwölfjährige Auschwitz überlebt

"Die Shoah begann nicht in Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft", mahnt Szepesi, die als Zwölfjährige bei der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gerettet worden war.

Vor dem Bundespräsidenten, dessen Ehefrau Elke Büdenbender, Bundeskanzler Olaf Scholz, Bundestagspräsidentin Bärbel Bas, der Vizepräsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Doris König, und der amtierenden Präsidentin des Bundesrates, Manuela Schwesig, sowie den Abgeordneten des Bundestages und vielen Ehrengästen erzählt Szepesi mit fester Stimme ihre Geschichte.

Sie habe 50 Jahre über das Geschehene geschwiegen, sagt die 91-Jährige, dann habe sie langsam angefangen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Seitdem nimmt sie wie viele andere Zeitzeugen die Aufgabe wahr, den nachfolgenden Generationen von den Verbrechen der Nationalsozialisten zu berichten und zu mahnen, dass sich etwas wie die Schreckensherrschaft des NS-Regimes und das größte Menschheitsverbrechen der Geschichte, der Holocaust, niemals wiederholt.

Töchter und Enkel begleiten Szepesi in den Bundestag

Die generationenübergreifende Aufarbeitung des Holocaust steht in diesem Jahr im Mittelpunkt der Gedenkstunde im Bundestag, die seit 1996 jährlich am oder um den 27. Januar stattfindet. Zu Beginn ihrer Rede grüßt Szepesi ihre Töchter und Enkel, die sie für ihre Rede in den Bundestag begleitet haben.

Marcel Reif im Interview

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"Ich bin sehr glücklich, dass meine lieben Töchter, Enkel und Urenkel hier anwesend sind. Euch gibt es, weil ich vor 79 Jahren, am 27. Januar 1945, von der Roten Armee als Zwölfjährige in Auschwitz-Birkenau befreit wurde." Weil sie überlebt hat, gibt es diese nächste Generation.

Für diese spricht nach Szepesi der renommierte Sportjournalist Marcel Reif. Er habe erst vor wenigen Jahren die ganze Schicksalsgeschichte seines Vaters erfahren.

Dieser habe geschwiegen, so Reif, um seine Kinder davor zu schützen, "Unsagbares hören, Unfassbares erfassen und Unerträgliches ertragen" zu müssen. Seine Schwester und er hätten eine sorgenfreie, fröhliche und liebevolle Kindheit und Jugend verbracht. "Fröhlich und sorgenfrei nicht zuletzt - das weiß ich heute -, weil mein Vater schwieg."

Eine zweite Chance, die das Land nutzen muss

Erst nach dem Tod des Vaters habe seine Mutter ihm erzählt, was Leon Reif, ein polnischer Jude, im Holocaust erlebt hatte: Wie er auf der Flucht einen fremden Jungen zurückließ, in der Hoffnung, ihn zu retten, und ihn damit dem Tod preisgab. Wie er einem anderen Jungen das Leben rettete, als er ihn auf seinen Schultern durch den Wald trug.

Reif erzählt im Bundestag, dass ihm seine Mutter bestätigte, was sein Vater gewollt und geschafft habe: "Es durfte nicht sein, dass auch noch seine Kinder von den furchtbaren Schatten heimgesucht, gequält werden, die seine Kindheit und Jugend verdunkelt, zerstört hatten."

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

🕍 Der Tag wurde 1996 vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog eingeführt. Seither findet jährlich am oder um den 27. Januar eine Gedenkstunde im Bundestag statt.

👉 Anlass ist die Erinnerung an die Befreiung der Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch Soldaten der Roten Armee am 27. Januar 1945.

🎼 Das generationenübergreifende Erinnern fand sich auch in der Musik wieder: Studentinnen und Studenten der Universität der Künste Berlin trugen Stücke von Ferenc Weisz, Günter Raphael und Rosy Wertheim vor - Künstlerinnen und Künstler, die von den Nationalsozialisten verfolgt oder ermordet wurden.



Reif bedankte sich bei Szepesi dafür, dass sie in den Bundestag gekommen war, um zu erinnern und zu mahnen. "Damit geben Sie diesem neuen, anderen Deutschland mit ihrem unfassbar großen Herzen eine Chance, es anders, besser, richtig zu machen", sagte Reif in Richtung der Zeitzeugin. Aber diese zweite Chance dürfe nicht - "niemals und nirgends" - vertan werden. "'Nie wieder!' ist mitnichten ein Appel", sagte Reif, "'Nie wieder!' kann nur sein, darf nur sein, muss sein: gelebte unverrückbare Wirklichkeit!"

Bundestagspräsidentin Bas: Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart

Was daneben jedoch auch Wirklichkeit ist, das macht neben Reif und Szepesi auch Bundestagspräsidentin Bas in ihrer Eröffnungsrede deutlich: Man müsse sich über die Verantwortung des "Nie wieder!" immer wieder neu verständigen, so Bas. "Deutsche haben sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Lange hatten wir gehofft: Die nachfolgenden Generationen müssten mit diesem Wissen immun sein gegen Antisemitismus. Wir merken in diesen Tagen leider deutlich: Das stimmt nicht. Judenhass ist kein Problem nur der Vergangenheit. Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart."


„Wer schweigt, macht sich mitschuldig.“
Eva Szepesi, Holocaust-Überlebende

Bas geht auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 ein und sichert in diesem Zusammenhang dem anwesenden israelischen Botschafter, Ron Prosor, die Solidarität des Bundestags zu. Die steigende Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden sei eine Schande für Deutschland, sagt Bas. Über 2.000 antisemitische Straftaten seien seit dem 7. Oktober begangen worden; das sei fast eine Straftat pro Stunde. "Deutschland darf und wird dazu nicht schweigen", betont die Bundestagspräsidentin. "Lassen Sie uns alle den Mut haben, nicht zu schweigen, sondern Hass und Menschenfeindlichkeit entschlossen entgegenzutreten."

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Im Bezug auf den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland mahnte auch Szepesi: "Wer schweigt, macht sich mitschuldig." Sie sei dankbar für die Menschen, die nach dem 7. Oktober auch ohne viele Worte für die Jüdinnen und Juden dagewesen seien. "Aber warum nur so wenige?", fragt Szepesi. "Ich sage immer zu den Menschen: Ihr habt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr habt die Verantwortung für das, was jetzt passiert." Sie stehe im Bundestag, um Zeugnis abzulegen, sagt die 91-Jährige am Schluss ihrer Rede. "Es war nie wichtiger als jetzt, denn 'Nie wieder!' ist jetzt!"