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Foto: DBT/Marco Urban
Zwei „Kinder“ von 10.000: Alf Lord Dubs und Hella Pick kamen 1938 von Prag und Wien aus mit den Kindertransporten per Zug nach Großbritannien.

Aus Nazi-Deutschland gerettet : "So etwas darf kein zweites Mal passieren"

Hella Pick und Alf Dubs wurden als Kinder aus Wien und Prag per Zug nach London gerettet. Im Interview erinnern sie sich an die Reise und das Ankommen in der Fremde.

31.01.2024
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5 Min

Rund 10.000 jüdische oder wegen ihrer jüdischen Herkunft im nationalsozialistischen Deutschland bedrohte Kinder fanden 1938 und 1939 im Rahmen der sogenannten Kindertransporte Zuflucht in Großbritannien. In der neuen Heimat wurden die Kinder bei Familienangehörigen, in Pflegefamilien oder in Internaten untergebracht. Die Ausstellung „I said, ‚Auf Wiedersehen“ im Bundestag  will nun mit Briefen, Fotos und Reisedokumenten die Geschichten und Erlebnisse von fünf Kindern und ihren Familien nacherzählen. 

Hella Pick und Alfred (Alf) Dubs, die selbst mit dem Zug von Wien und Prag nach London kamen, waren bei der Ausstellungseröffnung am Dienstagabend im Bundestag dabei. Im Interview erinnern sie sich gemeinsam an die beispiellose Rettungsaktion und erzählen, warum die Gesellschaft nun alles dafür tun muss, um rechte Bewegungen zu stoppen.


Vor 85 Jahren wurden Sie, Frau Pick, aus Wien und Sie, Herr Dubs, aus Prag mit einem Kindertransport nach England gebracht. Erinnern Sie sich an die Reise?

Hella Pick: Ich habe keine richtigen Erinnerungen an die Reise. Ich kann nur versuchen, sie zu rekonstruieren. Das tue ich zum Beispiel mit Fotos, die überlebt haben. Ich war damals zehn Jahre alt und ein Schulkind. Ich bin gern im Park spazieren gegangen. Erinnern kann ich mich an die Ankunft in England: Ich konnte kein einziges Wort Englisch außer „Goodbye“. So habe ich die Familie, die mich beherbergt und am Bahnhof Liverpool Street Station abgeholt hat, dann auch begrüßt.

Alfred Dubs: Ich erinnere mich sogar noch etwas an die Zeit vor dem Kindertransport. So mussten wir, als die Nazis Prag besetzten, Bilder vom Präsidenten Edvard Beneš aus unseren Schulbüchern reißen und ein Foto von Hitler hineinkleben. Und ich erinnere mich an deutsche Soldaten – sie waren überall. Da mein jüdischer Vater Prag direkt mit der Besatzung der Deutschen verließ und meine Mutter zuerst kein Ausreisevisum bekam, schickte sie mich auf den Kindertransport. Ich hatte Glück, weil mein Vater nach England geflüchtet war und ich ihn dort treffen konnte.

Was ist Ihnen von der Reise in Erinnerung geblieben?

Alfred Dubs: Nachdem wir Deutschland durchquert und die holländische Grenze erreicht hatten, jubelten die älteren Kinder – weil wir endlich außerhalb der Reichweite der Nazis waren. Ich war erst sechs Jahre alt und wusste, dass es ein bedeutender Augenblick war. Aber ich wusste nicht, warum. Ich war verwirrt.

Viele der Kinder, die durch die Kindertransporte gerettet wurden, haben ihre Eltern nie wieder gesehen. Oft waren sie die einzigen aus ihren Familien, die den Holocaust überlebt haben. Sie beide hatten Glück und trafen Ihre Mutter beziehungsweise Ihren Vater wieder.

Hella Pick: Zum Glück konnte meine Mutter sechs Monate nach meiner Abreise und kurz vor Ausbruch des Krieges nach England kommen. Ich war froh, wieder mit ihr zusammenleben zu können. Aber ich habe immer Kontakt zu der Familie gehalten, die mich aufgenommen hat. Ich bin ihnen sehr dankbar.

Alfred Dubs: Ich konnte in England zwar direkt meinen Vater treffen und hatte daher keine Pflegefamilie, aber ich habe den Kontakt zu einigen anderen Kindern des Kindertransportes gehalten. Da ich mit einem Transport kam, der von Nicholas Winton (englischer Börsenmakler, Anm. der Redaktion) organisiert wurde, haben sich einige von uns bei Veranstaltungen von Winton wiedergetroffen. Er hat uns zum Beispiel zu seinen Geburtstagen eingeladen. Auch bei Veranstaltungen der tschechischen Botschaft in London bin ich anderen Kindern von der Reise begegnet. Einige von uns waren gemeinsam auf einer tschechischen Schule in England. Aber im Laufe der Jahre bleiben nun immer weniger von uns übrig.
 

Foto: DBT/Marco Urban
Hella Pick
wurde 1929 in Wien in eine jüdische Familie geboren. Als 10-Jährige kam sie mit dem Kindertransport nach London. Sie studierte Politikwissenschaft in London und arbeitete als Journalistin im Außenressort für den Guardian und als Korrespondentin für die Vereinten Nationen in Washington.
Foto: DBT/Marco Urban

Frau Pick, Sie haben als Journalistin ihr Arbeitsleben lang über die Weltpolitik berichtet. Wie nehmen Sie die aktuellen politischen Entwicklungen in Deutschland und Europa wahr?

Hella Pick: Ich habe in meinem System, dass ich Politik immer verfolge. Das wird nie aufhören. Ich bin sehr beunruhigt darüber, was sich gerade in Deutschland abspielt. Auch darüber, dass die Zustimmung zur AfD so zugenommen hat. Ich kann nur hoffen, dass die Demonstrationen der vergangenen Tage dazu beitragen, dass die Leute wieder ein größeres Bewusstsein dafür bekommen, was gerade in der Welt passiert. Ich hoffe, dass sich die Menschen wieder von der AfD abwenden – einer Partei, die eigentlich als eine Anti-Europa-Partei angefangen und sich dann gewandelt hat in eine diskriminierende und viel zu weit rechts stehende Partei. Manchmal erinnert mich die aktuelle Situation daran, was sich zu Nazizeiten abgespielt hat.

Herr Dubs, Sie haben sich als britischer Politiker stets für die Rechte von Geflüchteten eingesetzt. Wie bewerten Sie das politische Klima derzeit in Europa?

Alfred Dubs: Eine der Tragödien, mit denen viele europäische Länder konfrontiert sind, ist, dass extrem rechte Parteien die Flüchtlingssituation für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Leider schaffen sie es damit, Wählerstimmen zu gewinnen. Das passiert nicht nur in Deutschland – auch in Ungarn, der Slowakei, Österreich, Frankreich, Italien und in vielen anderen Ländern. Die Demonstrationen in ganz Deutschland sind daher eine gute und wichtige Sache. Alles, was die Aufmerksamkeit darauf richtet, was gerade passiert, kann nur gut sein. Wir dürfen extrem rechte Parteien nicht die politische Landschaft dominieren lassen.
 

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Alfred Dubs
wurde 1932 in Prag geboren. Mit einem vom britischen Börsenmakler Nicholas Winton organisierten Kindertransport gelang er als Sechsjähriger nach London. Dubs studierte an der London School of Economics und war als Abgeordneter der Labour-Partei im britischen Unterhaus aktiv. 1994 zog er als Lord ins britische Oberhaus ein. 
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Wie blicken Sie auf die Zukunft Europas?

Hella Pick: Man muss alles dafür tun, um rechte Bewegungen zu stoppen. Eine Ausstellung, wie die über die Kindertransporte, kann hoffentlich dazu beitragen. Ich hoffe, dass die Menschen nicht vergessen, was sich unter Hitler abgespielt hat. So etwas darf kein zweites Mal passieren.

Ich möchte betonen, dass Flüchtlinge einen wichtigen Beitrag in dem Land leisten, in dem sie gelandet sind. Sie füllen Lücken, die für das tägliche Leben essenziell sind. Sie sind nicht nur Menschen, denen man helfen muss, sondern sie helfen auch uns. Das vergessen die Menschen leider schnell.

Alfred Dubs: Ich bedauere die momentane Flüchtlingsfeindlichkeit führender Politiker. Das ist schockierend. Auch finde ich es nicht gut, dass die britische Regierung von der Verpflichtung zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zur Genfer Konvention abrückt. Internationale Menschenrechtsinstrumente sind von grundlegender Bedeutung und daher wünsche ich mir, dass sich die Staaten an diese Vereinbarungen halten.

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Empfinden Sie eine besondere Verbindung zu Geflüchteten?

Alfred Dubs: Ich spüre eine enge Verbindung zu den Menschen, die aus Syrien oder Afghanistan kommen. Es ist immer bewegend für mich, Geflüchtete zu treffen, denn oft kennen sie meinen Hintergrund und ich ihren. Dann fühlen beide Seiten direkt gewisse Gemeinsamkeiten: Wir sind vor lebensbedrohlichen Situationen geflüchtet. Wir verstehen, wie es ist, in ein Land zu kommen, dessen Sprache man nicht spricht. Allerdings haben die Flüchtlinge heutzutage eine viel anstrengendere und kompliziertere Reise hinter sich, als ich sie hatte. Als Politiker habe ich mich stets dafür eingesetzt, die Gesetzgebung so zu verändern, dass Geflüchtete mehr Unterstützung vom Staat bekommen.

Hella Pick: Ich fühle mich nicht mehr als Flüchtling, aber ich weiß, dass ich immer eine gewisse Unsicherheit in mir behalten habe, die auch viele andere Flüchtlinge ihr ganzes Leben nicht verlieren. Ich konnte mir mein Leben aufbauen. Mein Leben konzentriert sich auf das Verständnis der Vergangenheit, aber vor allem auf das Vorwärtsgehen und darauf, die Zukunft zu gestalten.


Die Ausstellung über die Kindertransporte nach England wird noch bis zum 23. Februar 2024 in der Halle des Paul-Löbe-Hauses gezeigt. Besucherinnen und Besucher können sie nach vorheriger Anmeldung montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr sowie donnerstags von 9 bis 19 Uhr besuchen.