Sophie Schönberger über den Bundestag : "Mit Abstand das größte demokratische Parlament der Welt"
Die Rechtswissenschaftlerin Sophie Schönberger spricht im Interview über die Vergrößerung des Bundestages und die Normenkontrollklage gegen die Reform von 2020.
Frau Schönberger, der Bundestag ist mit 735 Mitgliedern wieder größer geworden. Haben Sie den Zuwachs um nochmals 24 angesichts des derzeitigen Wahlrechts erwartet?
Sophie Schönberger: Na ja, bei diesem Wahlrecht muss man sich im Grunde am Wahlabend von der Größe des Bundestages überraschen lassen. Es gab Modellrechnungen, die eine deutlich schlimmere Vergrößerung befürchten ließen. Jetzt ist man fast schon erleichtert über die Zahl von 735, was natürlich absurd ist: Der Bundestag ist nochmal gewachsen und jetzt mit Abstand das größte demokratische Parlament der Welt.
Der Zuwachs scheint vor allem durch die CSU gekommen zu sein. Deren bundesweites Zweitstimmenergebnis entspricht bei der eigentlichen Sollstärke des Parlaments von 598 Abgeordneten 34 Sitzen. Nun wurden aber 45 CSU-Leute in den Wahlkreisen direkt gewählt.
Sophie Schönberger: Das sind klassische Überhangmandate, sofern man die in dem etwas kompliziert gewordenen Wahlrecht noch identifizieren kann. Es gab für diese Wahl die Faustregel, dass jedes CSU-Überhangmandat etwa 18 bis 20 Ausgleichsmandate nach sich zieht. Bei der CSU ist das deshalb so extrem, weil ihre Überhangmandate nicht mit anderen Landeslisten verrechnet werden können. Daher muss der Bundestag vergrößert werden, bis der Anteil der Mandate wieder dem Zweitstimmenergebnis entspricht.
Dabei sind diesmal drei Überhangmandate nicht ausgeglichen worden - damit wollte die große Koalition bei der Wahlrechtsreform 2020 den Anstieg der Mandate begrenzen. Verzerrt das das Zweitstimmenergebnis?
Sophie Schönberger: Ja, das verzerrt es. Die CSU ist deutlich stärker im Bundestag repräsentiert, als es ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht. Ob das verfassungskonform ist, muss das Bundesverfassungsgericht in dem laufenden Normenkontrollverfahren entscheiden, bei dem ich Prozessvertreterin bin...
...von FDP-, Linken- und Grünen-Abgeordneten, die dagegen klagen...
Sophie Schönberger: Ja. Ich persönlich halte diese Regelung für verfassungswidrig.
2012 urteilte Karlsruhe aber, dass etwa 15 nicht ausgeglichene Überhangmandate - die Hälfte der Mindeststärke einer Fraktion - hingenommen werden können. Da sind drei Überhänge ohne Ausgleich nicht ok?
Sophie Schönberger: Sie können hingenommen werden, wenn sie sich als Folge der Personalisierung im Wahlrecht darstellen. Das heißt nicht, dass man sie bewusst einsetzen kann als Gestaltungsinstrument, wie es 2020 passiert ist.
Dann wären früher zwar bis zu 15 ausgleichslose Überhangmandate als eine Folgeerscheinung unseres personalisierten Verhältniswahlrechts hinzunehmen gewesen, aber der Gesetzgeber hätte jetzt nicht von vornherein ins Wahlrecht schreiben dürfen, dass drei Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben?
Sophie Schönberger: Genau, das hat das Bundesverfassungsgericht so nicht abgesegnet.
Wie ist denn im Bundeswahlgesetz geregelt, an wen die drei Überhangmandate ohne Ausgleich gehen?
Sophie Schönberger: Auch das ist ein Punkt, der in dem Normenkontrollverfahren angegriffen wird: dass nämlich die gesetzliche Regelung unvollständig ist, weil sie wesentliche Rechenschritte nicht genau vorzeichnet. Wer genau diese drei unausgeglichenen Überhangmandate bekommt, ist eine Rechenoperation, die nicht besonders klar definiert ist, sondern einer Auslegung des Gesetzes folgt. Dabei war es nach den letzten Prognosen immer sehr wahrscheinlich, dass die CSU sie bekommt. Das war es auch: Wer die meisten Überhangmandate bekommt, erhält tendenziell auch diese unausgeglichenen Überhangmandate.
Was kann passieren, wenn Karlsruhe über die Normenkontrollklage urteilt?
Sophie Schönberger: Der Mangel der fehlenden Vollständigkeit und Klarheit der Norm ist nur durch eine neue Gesetzesregelung zu beheben. Wenn das Bundesverfassungsgericht entscheidet, dass das verfassungswidrig ist, muss der Gesetzgeber das Wahlrecht neu fassen.
Und die unausgeglichenen Überhangmandate?
Sophie Schönberger: Da wäre es theoretisch möglich, dass das Gericht anordnet, die auszugleichen. Dann würde der Bundestag noch größer, aber dafür proportional richtig zusammengesetzt. Der Vorteil für die CSU würde dann entfallen. Das könnte man theoretisch noch im Nachhinein anordnen.
Aber die Wahl vom vorletzten Sonntag bliebe trotzdem gültig?
Sophie Schönberger: In der Tat. Wenn das Wahlrecht zu unbestimmt ist, kann dieser Fehler nicht durch eine Neuwahl behoben werden, sondern nur, indem der Bundestag ein neues Wahlrecht beschließt, auf dessen Grundlage beim nächsten Mal gewählt wird.
Sie gehören auch der vom Bundestag eingesetzten Kommission zur Wahlrechtsreform an. Wenn das Gericht das geltende Wahlrecht absegnet - brauchen wir dann eigentlich noch eine neue Wahlrechtsreform?
Sophie Schönberger: Die Reform brauchen wir in jedem Fall. Jetzt sind es schon 735 Abgeordnete; bei einem nur leicht anderen Wahlergebnis könnten es auch 900 sein. Das ist zu groß und bringt den Bundestag an seine Grenzen. Das Plenum wird größer, die Ausschüsse werden größer, und der einzelne Abgeordnete hat bei einer derart großen Versammlung viel weniger Möglichkeiten, sich wirklich einzubringen. Das Thema Wahlrechtsreform bleibt also so oder so auf der politischen Agenda, und zwar dringend.