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Editorial : Vertreter des ganzen Volkes

Der neue Bundestag wird jünger, vielfältiger und weiblicher. Nicht-Akademiker sind aber immer noch selten. Für den Interessenausgleich sollte sich das ändern.

01.11.2021
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2 Min

Die konstituierende Sitzung des Deutschen Bundestages hat mehrere Botschaften ins Land gesandt: Der neue, 20. Bundestag verspricht jünger, vielfältiger und weiblicher zu werden. Mit der neuen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas steht nun zum dritten Mal in der bundesdeutschen Geschichte eine Frau an der Spitze das Parlaments, nach elf Männern in diesem Amt seit 1949. Ruhmreich sei dieses Ungleichgewicht zwischen Männern und Frauen nicht, so fasste es die Sozialdemokratin in ihrer Antrittsrede zusammen. Die Verantwortung sei lange noch nicht gerecht auf alle Schultern verteilt. Bas wies aber auch darauf hin, dass die Gesellschaft etwas weiter sei als 1972, als mit der Sozialdemokratin Annemarie Renger erstmals eine Bundestagspräsidentin gewählt wurde. Ein vielfach beachtetes Zeichen im neuen Bundestag ist etwa die Zusammensetzung des Präsidiums mit fünf Frauen und einem Mann: Noch nie war das Präsidium weiblicher.

Das neue Parlament ist gleichwohl auch homogener geworden: Fast neun von zehn Mitgliedern des Hohen Hauses haben studiert. Die Gründe für diese Häufung mögen vielschichtig sein und auch damit zusammenhängen, dass im Vergleich zu früheren Zeiten mehr Menschen die Türen der Hochschulen offenstehen. Und dennoch: Im Verhältnis zu Wahlbevölkerung bleibt hier ein Widerspruch: Einem sehr hohen Anteil von Akademikern im Bundestag steht rund ein Fünftel der erwachsenen Deutschen gegenüber, die ein Universitätsstudium abgeschlossen haben.

Diskussion über mehr Vielfalt 

Nun ist der Einwand nicht von der Hand zu weisen, dass Abgeordnete nicht jenen Gruppen angehören müssen, für deren Belange sie streiten. Die junge Parlamentarierin kann die Interessen von Rentnern genauso vertreten wie der Abgeordnete im Rentenalter die Interessen junger Menschen oder der Handwerker die Interessen von Ingenieurinnen. Abgeordnete sind "Vertreter des ganzen Volkes" - so ist es im Grundgesetz vorgesehen.

Zu einer Diskussion über Vielfalt im Parlament gehört aber die Frage, wo die Gründe dafür zu suchen sind, dass nicht mehr von jenen Bürgerinnen und Bürger im Parlament vertreten sind, deren Berufs- und Lebenswege nicht nur durch Hörsäle, sondern durch duale Ausbildungen, Weiterbildungen, womöglich ein Abendstudium führten - so wie übrigens im Fall der neuen Bundestagspräsidentin. Für den Interessenausgleich in einer zu immer größerer Vielfalt strebenden Gesellschaft könnte ein höherer Anteil dieser Vertreter im Parlament jedenfalls von Vorteil sein.