Wahlrecht : Zu viele Sitze im Hohen Haus
Die Koalition will die Zahl der Abgeordneten begrenzen. Bei der Union stößt der Vorschlag zum Wahlrecht auf Ablehnung.
Schon die dritte Wahlperiode hintereinander debattiert der Bundestag über eine Verkleinerung des Parlaments; vergangene Woche ging der Streit in die nächste Runde. Ein fraktionsübergreifender Kompromiss unter Einschluss der Union zeichnete sich dabei nicht ab, wohl aber eine klare Mehrheit für eine Begrenzung der Abgeordnetenzahl auf die Regelgröße von 598 bei gleichzeitigem Verzicht auf sogenannte Überhang- und Ausgleichsmandate - mit der Folge, dass künftig nicht mehr jeder Wahlkreissieger seines Mandats sicher sein könnte.
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
Zehn Jahre ist es her, dass der Gesetzgeber beschloss, Überhangmandate in Zukunft vollständig mit "Ausgleichsmandaten" zu kompensieren. Überhangmandate fallen an, wenn eine Partei über die Erststimme mehr Direktmandate erringt, als ihrem für die Sitzverteilung maßgeblichem Zweitstimmenergebnis entspricht. Dazu kam es bereits in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, doch nach der Wiedervereinigung stieg ihre Zahl spürbar an. 2009 waren es schon 24 Überhangmandate, alle für die Union. Umso weniger entsprach die Zusammensetzung des Parlaments dem Listenergebnis der Parteien, was deren Wahlrechts- und Chancengleichheit entsprechend beeinträchtigte. 2012 stellte das Bundesverfassungsgericht daher fest, dass es maximal etwa 15 Überhangmandate ohne einen Ausgleich geben dürfe, was der Hälfte der zur Fraktionsbildung nötigen Sitzzahl entspricht.
Daher beschloss das Parlament im Februar 2013, alle Überhänge mit zusätzlichen Mandaten zu neutralisieren. Bei der Wahl sieben Monate später führten dann vier Überhange zu 29 Ausgleichsmandaten und einem Bundestag mit 631 Mitgliedern. Vier Jahre danach waren es 65 Ausgleichsmandate bei 46 Überhängen; die Abgeordnetenzahl stieg auf 709 und der Ruf nach einer Begrenzung auf "unüberhörbar".
Das XXL-Parlament
Gleichwohl kam ein parteiübergreifender Konsens nicht zustande; stattdessen setzten Union und SPD 2020 durch, dass künftig drei Überhänge ohne Ausgleich bleiben, die Zahl der Wahlkreise ab 2024 von 299 auf 280 reduziert wird und eine Kommission über weitere Reformschritte beraten soll. Ergebnis: 736 Abgeordnete seit der Wahl von 2021, davon 34 mit Überhang- und 104 mit Ausgleichsmandaten. Ergibt 138 über der gesetzlichen Regelgröße - der XXL-Bundestag in Rekordgröße.
Im August 2022 beschloss die Wahlrechtskommission schließlich gegen die Stimmen ihrer Unions-Mitglieder Empfehlungen zur Verkleinerung des Bundestages, die von den Ampel-Vertretern formuliert waren. Sie finden sich nun weitgehend in dem Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen (20/5370) wieder, über den der Bundestag am Freitag in erster Lesung beriet.
Danach soll es bei 299 Wahlkreisen und zwei Wählerstimmen bleiben, wobei die Ampel die bisherige Erststimme als "Wahlkreisstimme" bezeichnen will und die Zweitstimme als "Hauptstimme". Durch den Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate will sie die Bundestagsgröße sicher auf 598 Mandate begrenzen. Hat eine Partei in einem Land mehr Wahlkreissieger als ihr Listenmandate zustehen, sollen von diesen "Erststimmenkönigen" diejenigen mit den relativ schlechtesten Ergebnissen leer ausgehen.
Während die AfD zu der Debatte einen im Kern inhaltsgleichen Gesetzentwurf (20/5360) vorgelegt und damit ihren Vorschlag aus der vorigen Wahlperiode aufgegriffen hat, lehnt die CDU/CSU dieses Modell strikt ab. Sie schlägt stattdessen in einem Antrag (20/5353) vor, die Zahl der Wahlkreise auf 270 zu reduzieren. Zugleich will sie die Zahl unausgeglichener Überhangmandate auf bis zu 15 erhöhen und spricht sie sich für eine "Anhebung der Grundmandatsklausel" aus. Danach sollen bei der Verteilung der Sitze auf die Landeslisten nur Parteien berücksichtigt werden, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten oder in mindestens fünf statt bisher drei Wahlkreisen einen Sitz errungen haben.
Sebastian Hartmann (SPD) wertete den Ampel-Vorschlag in der Debatte als "großen Wurf", der den Bundestag bei allen künftigen Wahlen wieder auf seine Regelgröße zurückführen werde. Für die Verteilung der 598 Sitze sei dabei die "Hauptstimme" maßgeblich. Ist durch das proportionale Verhältnis für eine Partei der Sitzplatzanspruch entstanden, werde auf die Wahlkreissieger geblickt. "Wenn diese doppelte Legitimation entsteht", sei der entsprechende Kandidat im Wahlkreis gewählt. Dies sei einfach, gerecht nachvollziehbar und bevorteile keine Partei alleine.
"Hauptstimmendeckung"
Ansgar Heveling (CDU) warnte dagegen, dass Wahlkreise, deren Erststimmensieger nicht über diese "Hauptstimmendeckung" verfügen, im Bundestag nicht mehr durch einen Wahlkreisabgeordneten vertreten wären. Nach dem von der Ampel verfolgten "Kappungsmodell" würden Direktmandate "nicht mehr gewonnen, sondern einfach nur noch zugeteilt", kritisierte Heveling und forderte, die bisherige Wirkung der Erststimme zu erhalten.
Till Steffen (Grüne) betonte, dass die Hauptstimme entscheiden solle, wie viele Mandate jede Partei im Bundestag erhält, während sich die Verteilung auf die Länder aus der Zahl der dort jeweils abgegebenen Stimmen ergebe. Bei der Frage, wer aus welchem Land in das Parlament einzieht, hätten dann die Wahlkreiskandidaten den Vorrang vor den Listenkandidaten.
Albrecht Glaser (AfD) verwies darauf, dass seine Fraktion den Wegfall der Überhangmandate bereits 2020 in einem Gesetzentwurf vorgeschlagen habe, der nun in leicht veränderter Form wieder auf der Tagesordnung stehe. Dieser enthalte alles, was die Koalition jetzt als eigenes Konzept preise. Dabei begrüße seine Fraktion, dass das von ihr vorgelegte Konzept eine Mehrheit finden werde. Zusätzlich enthalte ihr Entwurf die "offene Listenwahl", auf die nicht verzichtet werde. Danach sollen Zweitstimme in bis zu drei Stimmen aufgeteilt und damit die Reihenfolge der Landesliste einer Partei geändert werden können.
Konstantin Kuhle (FDP) sagte, wenn eine Partei in einem Land in mehr Wahlkreisen die "stimmenstärkste Person" stellt als ihrem Zweitstimmenergebnis entspricht, seien die Bewerber mit den relativ schlechtesten Erststimmenergebnissen "nicht gewählt". Daher gehe es eben nicht darum, "jemandem, der schon gewählt ist, etwas wegzunehmen". Auch sei es völlig normal, dass an eine Wahl mehr als eine Bedingung geknüpft werde.
Susanne Hennig-Wellsow (Linke) sagte, der Ampel-Vorschlag wolle die Grundsätze der Verfassungsmäßigkeit und Gerechtigkeit vereinen und gehe für sie "in eine richtige Richtung". Dagegen würde der Vorschlag der Union zum "Fortbestehen" von deren "einseitiger Bevorzugung" führen. Dem könne nicht zugestimmt werden, wobei sie noch gar nicht über die Absicht spreche, "möglicherweise faktisch die Grundmandatsklausel zu kippen".
Anhörung angesetzt
Die Linke hatte von der bisherigen Grundmandatsklausel zuletzt bei der Bundestagswahl 2021 profitiert, bei der sie nur 4,9 Prozent der Zweitstimmen erhielt, aber drei Direktmandate errang und daher in Fraktionsstärke ins Parlament einziehen konnte. Sie brachte Anträge ein, das Mindestalter für das aktive Wahlrecht auf Bundesebene von 18 auf 16 Jahren abzusenken (20/5358), ein Ausländerwahlrecht einzuführen (20/5356) und im Parteiengesetz zur Stärkung des Frauenanteils im Parlament festzulegen, dass Frauen und Männer bei der Listenaufstellung gleichermaßen berücksichtigt werden (20/5357). Die Vorlagen überwies das Parlament ebenso wie die Gesetzentwürfe und den Unions-Antrag zur weiteren Beratung an den federführenden Innenausschuss. Der hat dazu bereits eine Experten-Anhörung für den 6. Februar angesetzt.