Strategie gegen Einsamkeit : Wie Einsamkeit die Gesellschaft herausfordert
Ende 2023 hat das Bundesfamilienministerium seine „Strategie gegen Einsamkeit“ veröffentlicht. Einfache Lösungen für das Problem gibt es nicht.
Anfangs wurde Michael Dixon von seinen Kollegen spöttisch "Der Pfarrer" genannt: Weil der Allgemeinmediziner die Krankheiten seiner Patienten nicht nur mit den üblichen Medikamenten behandelte, sondern ihnen Wandergruppen, Kunst -oder Schreibkurse vermittelte und dafür extra eine Mitarbeiterin einstellte. So begann vor rund 15 Jahren im südenglischen Cullompton, einer kleinen Gemeinde mit rund 8.000 Einwohnern, so etwas wie eine Revolution. Dixon vermutete, dass hinter den sichtbaren Leiden vieler seiner Patienten ein anderes steckte: Die zunehmende Einsamkeit, die er beobachtete. Also verordnete er ihnen "soziale Medizin" und stellte fest, dass sich bei jenen, die seine Praxis am häufigsten besuchten und die er mit "sozialer Medizin" behandelte, die Krankenhausbesuche und Hausarzttermine um 20 Prozent reduzierten. 2019 erkannte der britische Gesundheitsdienst NHS diese Behandlungsmethode offiziell an. "Social Prescribing", also "Soziale Medikation", ist seitdem auf Rezept erhältlich.
Auch zahlreiche Studien belegen: Chronische Einsamkeit kann krank machen. Sie steigert das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder für neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz und senkt sogar die Lebenserwartung. Das alles belastet das Gesundheitssystem und wird auch für Arbeitgeber ein Problem, denn die Anzahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen steigt seit Jahren. Im Oktober hatte der "DAK-Psychreport" für 2022 einen neuen Höchststand bei den Versicherten der Krankenkasse festgestellt: 301 Fehltage je 100 Versicherte. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer.
Einsamkeit hat negative Folgen für politische und soziale Teilhabe
Dass Einsamkeit, wenn sie über längere Zeit andauert, krank machen kann, wirkt vielleicht nicht überraschend. Überraschend ist eher die Tatsache, dass es sich um ein Phänomen handelt, das längere Zeit unter dem Radar der Öffentlichkeit existierte und nun offenbar einen kritischen Punkt erreicht hat. Erkennbar ist das daran, dass es seit einigen Jahren auf der politischen Agenda angekommen ist: Großbritannien hat schon 2018 die weltweit erste Strategie gegen Einsamkeit veröffentlicht und eine Stabsstelle beim Staatssekretariat für Digitales, Kultur, Medien und Sport eingerichtet. Im selben Jahr startete auch in den Niederlanden das Programm "Vereint gegen Einsamkeit". In Frankreich, Japan und Australien gibt es ähnliche Initiativen, bei denen es in erster Linie darum geht, vorhandene zivilgesellschaftliche und politische Akteure vor Ort zu vernetzen, einzelne neue Projekte zu finanzieren und Wissen zu vermitteln.
Was Einsamkeit ist
❔ Einsamkeit wird definiert als ein subjektives negatives Gefühl, das entsteht, wenn die Kluft zwischen den gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen groß ist.
📈 In Deutschland fühlten sich nach einer Auswertung des "Deutschland-Barometer Depression 2023" im vergangenen Jahr 25 Prozent der Erwachsenen sehr einsam.
🤒 Armut und Krankheit, aber auch wenig Freizeit begünstigen Einsamkeit. Alleinerziehende, Erwerbslose, chronische Kranke, pflegenden Angehörige oder Menschen mit Behinderungen sind besonders gefährdet.
Mit der Präsentation der Einsamkeitsstrategie durch das Bundesfamilienministerium Anfang des Jahres ist das Thema auch in Deutschland auf der (bundes-)politischen Tagesordnung gelandet. Darin verweist die Regierung nicht nur auf gesundheitliche Risiken für Einzelne, sondern auch auf die negativen Folgen für die soziale Teilhabe und politisches Engagement. "Klar ist, dass nicht jede einsame Person Ressentiments entwickelt. Aber nachweislich nehmen beide Gefühle in unserer Gesellschaft zu, und in vielen Fällen verbinden sie sich miteinander. Menschen können in der Einsamkeit extreme Haltungen entwickeln und das geht mit einem Vertrauensverlust in unsere Demokratie einher", resümiert der Verfassungsrechtler Jens Kersten in seinem Buch "Einsamkeit und Ressentiment".
Ziel: Das Thema aus der Tabuzone holen
Nicht zuletzt wegen des Anstiegs der Zahl der Betroffenen seit der Covid-19-Pandemie nennt auch die Bundesregierung Einsamkeit "eine gesamtgesellschaftliche und politische Herausforderung zugleich". Ziele der Strategie sind: Sensibilisierung der Öffentlichkeit, Stärkung des Wissens und der Praxis, bereichsübergreifendes Agieren und Unterstützung der Betroffenen. Im Kern geht es darum, eine Fülle von Maßnahmen, Projekten und Initiativen aus den Bereichen Wohnen, Ernährung, Gesundheit und Familienpolitik, die zum größten Teil schon Jahre existieren, zu bündeln und das Thema aus der Tabuzone zu holen. Denn solange es schambehaftet bleibe, betonen Experten immer wieder, seien Lösungen kaum möglich.
"Es ist gut, so einen Überblick zu haben, das zeigt die Wertschätzung für die Projekte", sagt Lydia Seifert, Geschäftsführerin der Telefonseelsorge Deutschland über die Strategie. Gleichzeitig würden viele der Projekte permanent um ihre Finanzierung kämpfen müssen. Angesichts wegbrechender Kirchensteuern sehe auch die Telefonseelsorge, die in erster Linie von den beiden großen christlichen Kirchen finanziert wird, ungewissen Zeiten entgegen, erläutert sie. "Die Nachfrage nach Telefonseelsorge ist enorm hoch, wir können die eigentlich kaum decken. Aber die Mittel werden immer knapper." Für Seifert ist deshalb klar: "Die Gesellschaft insgesamt muss sich die Frage stellen: Sind wir für Menschen in Krisensituationen da und sind wir bereit, dafür auch Geld auszugeben? Diese Bereitschaft sehe ich in der Einsamkeitsstrategie bisher noch nicht."
Ländern und Kommunen reagieren, bedingt durch die Pandemie, schon seit einigen Jahren auf das Problem und entwickeln Projekte. So hat das bevölkerungsreichste Bundesland, Nordrhein-Westfalen (NRW), im Januar 2020 eine Enquetekommission "Einsamkeit und soziale Isolation" eingesetzt, die in ihrem Bericht unter anderem fordert, Fachkräfte in Kitas, Schulen, am Arbeitsplatz und im Gesundheits- und im Sozialbereich sowie Politiker für die Themen zu sensibilisieren, damit sie als Multiplikatoren zur Entstigmatisierung beitragen können. "Dabei ist es besonders wichtig, die strukturellen Zusammenhänge zwischen Einsamkeit, Bildung, Armut, Arbeitslosigkeit, direktem Migrationshintergrund und vulnerablen Gruppen sowie nachbarschaftlichen Strukturen und fehlendem Engagement in den Fokus zu nehmen", betont die Kommission.
Armut begünstigt Einsamkeit
Tatsächlich weisen Studien immer wieder auf einen starken Zusammenhang zwischen Armut und Einsamkeit hin. Alleinerziehende sind hier eine der gefährdetsten Gruppen, aber auch ältere Menschen und Jugendliche. Auf Letzteres wies jüngst eine im November 2023 vorgestellte Einsamkeitsstudie aus NRW hin, für die rund 2.200 Jugendliche befragt wurden. Die Zahlen sind alarmierend, denn 16 bis 18 Prozent der Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahren gaben an, sehr einsam zu sein. Auffallend auch hier: Jugendliche mit finanziellen Problemen im Haushalt fühlen sich öfter einsam. "Je niedriger die Einkommensklasse, desto höher ist die Einsamkeitsrate und umgekehrt", stellt die Enquetekommission aus NRW fest und führt aus, dass in Haushalten mit einem Monatseinkommen unter 500 Euro jede dritte Person einsam ist, in Haushalten mit mehr als 2.000 Euro ist es nur jede 20. Person.
So komplex die Ursachen von Einsamkeit sind, so verschieden sind die Handlungsansätze vor Ort. Frankfurt (Oder) startete schon vor Jahren das Projekt "Gegen Vereinsamung", das sich vor allem an Senioren richtete und diese durch "aufsuchende Sozialarbeit" aus ihrer Einsamkeit herausholen sollte. In Frankfurt am Main versuchte man es dagegen mit Kunst: Das Gesundheitsamt der Stadt startete Ende 2022 das Projekt "Kultur auf Rezept", das Menschen, die sich einsam fühlen, Museumsführungen, Theaterkurse oder Workshops anbot. "Unter den Teilnehmenden sind die Einsamkeitsgefühle gesunken und das Wohlbefinden gestiegen. Das ist eine sehr positive Bilanz", freute sich Gesundheitsdezernentin Elke Voitl Ende März, als das Projekt zu Ende ging.