Einsamkeitsforscherin im Interview : "Einsamkeit ist ein unangenehmer, schmerzhafter Zustand"
Die Einsamkeitsforscherin Maike Luhmann über ein komplexes Problem und die Bedeutung lokaler Initiativen gegen Einsamkeit.
Frau Luhmann, Hotels in den Bergen werben gern damit: "Genießen Sie die Einsamkeit der Natur!" Werden Einsamkeit und Alleinsein oft verwechselt?
Maike Luhmann: Im Alltag ja. Aber es ist nicht dasselbe. Alleinsein kann etwas Freiwilliges und Angenehmes sein. Einsamkeit aber ist ein unangenehmer, schmerzhafter Zustand, der eintritt, wenn Sozialbeziehungen nicht so vorhanden sind, wie man es sich wünscht. Das kann mit Alleinsein zusammenhängen, muss es aber nicht. Man kann auch einsam sein, obwohl man ständig von Menschen umgeben ist.
Jeder kennt sicher Gefühle von Einsamkeit. Ab wann wird es kritisch?
Maike Luhmann: Einsamkeit ist keine Krankheit und nicht etwas, was man hat oder nicht hat. Sondern man muss sich Einsamkeit als ein Spektrum vorstellen. Der Punkt, ab wann es kippt, ist schwer zu definieren, weil es sehr von individuellen Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, also wirklich von vielen Faktoren abhängt. Aber wenn jemand über längere Zeit stark einsam ist und für sich keinen Weg findet, da rauszukommen, dann wird es kritisch, das heißt, es fängt an, sich auf die Gesundheit auszuwirken.
Maike Luhmann ist eine der bekanntesten Einsamkeitsforscherinnen Deutschlands. Erst im Herbst hat sie zusammen mit dem Ministerpräsidenten Nordrhein-Westfalens, Henrik Wüst (CDU), eine neue Studie zur Einsamkeit bei Jugendlichen vorgestellt.
Erschwert diese Komplexität es, politisch Handlungsansätze zu entwickeln?
Maike Luhmann: Oft liegen die Dinge in der Person und bestimmten Lebensumständen begründet, auf die Politik keinen Einfluss hat. Gleichzeitig ist Einsamkeit in der Bevölkerung stärker verbreitet, wenn bestimmte Rahmenbedingungen existieren oder eben nicht. Deshalb gibt es auf struktureller Ebene durchaus Handlungsspielraum für politische Maßnahmen.
Seit Corona rückt die Einsamkeit von Jugendlichen verstärkt in den Fokus. Die Lockdowns sind lange vorbei, wie groß ist das Problem immer noch?
Maike Luhmann: Neue Zahlen aus Nordrhein-Westfalen zeigen, dass Jugendliche sehr viel stärker unter Einsamkeit leiden als vor der Pandemie. Es hat sich also etwas verändert. Zwar gibt es natürlich auch dafür verschiedene Ursachen. Aber ich denke, dass die Pandemie einen Anteil daran hat. Denn bei Jugendlichen gibt es einfach besonders sensible Phasen, in denen Freundschaften wichtiger werden, erste romantische Erfahrungen gemacht werden. Wenn Jugendliche wiederholt davon abgehalten werden, kann das langfristige Folgen haben. Daneben ist es durchaus möglich, dass auch die Nutzung des Internets den Alltag der Jugendlichen so verändert hat, dass Einsamkeitstendenzen zunehmen. Aber für diese Kausalität fehlt momentan noch eine gute Datengrundlage.
Einsamkeit geht mit einem Rückzug einher, mit wenig Vertrauen in Andere. Die Chance, dass diese Menschen aktiv ein Hilfsangebot in der Nähe aufsuchen, ist relativ gering, oder?
Maike Luhmann: Das ist in der Tat eine der größten ungelösten Fragen. Für Menschen, die sich schon sehr lange zurückgezogen haben, braucht es deshalb aufsuchende Angebote, die zu ihnen kommen. Es gibt da, auch international, viele Ideen und Projekte. Zum Beispiel wurden Paketbooten in den Niederlanden geschult, um Anzeichen von Einsamkeit bei Menschen in ihrer Gemeinde besser zu erkennen, um dann Hilfen zu organisieren. Oder das Verschreiben sozialer Aktivitäten per Rezept wie in Großbritannien kann helfen, gerade an Menschen heranzukommen, die schon sehr stark zurückgezogen sind. Zum Arzt gehen sie dann meistens doch noch, gerade Ältere.
Ende 2023 hat das Bundesfamilienministerium seine „Strategie gegen Einsamkeit“ veröffentlicht. Einfache Lösungen für das Problem gibt es nicht.
Die Psychologin und Direktorin des Deutschen Jugendinstituts befürchtet langfristige Folgen der Pandemie und fordert ein Umdenken, um Kinder besser einzubinden.
Gibt es im Verlauf einer Biografie Phasen, in denen man anfälliger ist, in Einsamkeit abzurutschen?
Maike Luhmann: Die gibt es. Auch im internationalen Kontext konnten wir feststellen, dass zum einen Jugendliche sehr stark betroffen sind. Das ist auch plausibel, weil sich im Jugendalter Beziehung neu sortieren und das Selbstwertgefühl stark davon abhängt, ob man Freunde hat. Zum anderen sind es die "Hochaltrigen", also nicht die 70-Jährigen, sondern deutlich ältere, die stark unter Einsamkeit leiden. Wenn also irgendwann die Gesundheit so nachlässt, dass sie die Mobilität einschränkt und das soziale Netz immer kleiner wird.
Kann man in einer anonymen Großstadt leichter einsam werden als auf dem Dorf, wo jeder jeden kennt?
Maike Luhmann: Nein, das kann man so nicht sagen. Es ist zwar nicht egal, wo man wohnt, es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass Merkmale des Wohnortes auch einen Effekt haben. Aber sowohl Städte als auch Dörfer haben ihre Vor- und Nachteile. Einerseits ist es vielleicht als Neuankömmling in einer großen Stadt schwerer, andererseits hat man dort eine größere Auswahl an Menschen und mehr Angebote zur Verfügung. Deshalb: Entscheidend ist nicht der Ort an sich, sondern, ob ich dort mit meinen Bedürfnissen gut hinpasse.
Wir leben in einer sehr stark individualistischen Gesellschaft. Begünstigt das Einsamkeitstenzenden eher als in mehr kollektivistisch geprägten?
Maike Luhmann: Interessanterweise sieht man in Studien eher den gegenteiligen Effekt: Das Einsamkeitsempfinden ist in kollektivistischeren Gesellschaften höher. Einsamkeit ist ja der Abgleich zwischen dem, was man erwartet und dem, was man hat. Es kann sein, dass man in diesen Gesellschaften tatsächlich ein dichteres soziales Netz hat. Aber gleichzeitig sind die Erwartungen auch deutlich höher, gerade an familiäre Beziehungen. Wenn der Kontakt zu den eigenen Kindern dann nicht so eng ist, wie gewünscht, empfindet man eventuell schneller Einsamkeit als in einer Gesellschaft, wo eher klar ist, dass die Kinder woanders wohnen.
Ist das Thema mit der Einsamkeitsstrategie der Bundesregierung politisch dort angekommen, wo es hingehört?
Maike Luhmann: Das auf jeden Fall. Es hat inzwischen alle Ebenen erreicht. Auch in den Ländern und auf kommunaler Ebene passiert enorm viel, ebenso auf EU-Ebene. Das ist gut, denn Einsamkeit kann letztlich nur mit Unterstützung der Politik angegangen werden, auch wenn es nicht die eine Lösung gibt, sondern nur ein ganzes Potpourri aus Maßnahmen erfolgreich sein kann.
Ein solches Potpourri präsentiert die Einsamkeitsstrategie und man hat den Eindruck, es passiert schon sehr viel.
Maike Luhmann: Es passiert auch viel und die Strategie enthält sehr viele gut durchdachte Maßnahmen. Etwas enttäuschend ist aber, dass keine zusätzlichen Mittel eingeplant sind. Stattdessen werden viele Maßnahmen aufgezählt, die es ohnehin schon gibt und die nun unter dem Label Einsamkeit zusammengefasst werden. Ganz ohne Investitionen wird sich am Status quo jedenfalls nicht viel ändern.
Ist der Bund überhaupt der richtige Akteur?
Maike Luhmann: Begrenzt, denn natürlich müssen die Projekte letztlich lokal umgesetzt werden. Dort gibt es unglaublich viele gute Ideen und Initiativen, die auch durch privates Engagement entstehen. Aber die haben oft noch nicht mal Vereinsstrukturen und erst recht kein Geld. Auf diese Initiativen können wir nicht verzichten, das ist genau, was wir brauchen. Wenn wir es schaffen, hier systematisch zu fördern, wären wir schon einen Schritt weiter. Und da könnte durchaus auch der Bund mit ins Boot kommen.