Psychologin Sabine Walper zu den Pandemie-Folgen : "Wir haben unseren Kindern sehr viel abverlangt"
Die Psychologin und Direktorin des Deutschen Jugendinstituts befürchtet langfristige Folgen der Pandemie und fordert ein Umdenken, um Kinder besser einzubinden.
Frau Walper, wie gravierend sind die gesundheitlichen Auswirkungen für Kinder und Jugendliche in der Coronakrise gewesen?
Sabine Walper: Die Auswirkungen waren beträchtlich. Wir haben vor allem in der psychischen Gesundheit einen deutlichen Anstieg der Belastungen gesehen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Auch die Eltern sind teilweise in die Knie gegangen. Auf der physiologischen Seite, bei der Bewegung von Kindern und bei den Ernährungsgewohnheiten, hat die Pandemie ebenfalls unglückliche Spuren hinterlassen. Wir haben gehofft, dass sich relativ schnell alles wieder einrenkt, aber manche Probleme halten sich lange, wie auch die Ergebnisse der COPSY-Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zeigen.
Was sticht an Problemen heraus?
Sabine Walper: Viele Probleme haben direkt mit dem Lockdown zu tun. Bei der psychischen Gesundheit sind es Gefühle von Einsamkeit, zunehmende Depressivität und Verlust an Lebensfreude. Wir sehen vermehrt Angststörungen, wobei die Ängste sich nicht nur um die Infektionsrisiken ranken. Viele Kinder haben heute Berührungsängste gegenüber anderen Menschen, sie trauen sich nicht in belebte Räume hinein. Es gibt auch mehr Kinder, die sich ritzen, also selbst verletzen als Ausdruck innerer Spannungen. Hinzu kommen Identitätszweifel. Manche Kinder haben sich quasi in das Internet verkrochen und Spielsucht entwickelt und finden den Weg nicht leicht wieder heraus. Das ist ein ganz breites Spektrum an Problemen.
Wie sind kleine Kinder mit der Krise zurechtgekommen?
Sabine Walper: Es gibt mehr Daten über Jugendliche, weil die selbst Auskunft geben können, bei den Jüngeren sind wir oft auf Eltern angewiesen. Gerade bei jüngeren Kindern berichten die Eltern, dass die Einsamkeit stark zugenommen hat, zumal Kinder schon im Kita-Alter allein klarkommen mussten, weil Eltern sich nicht kümmern konnten, wie es sonst die Kita getan hätte. Besonders betroffen waren Kinder, deren Kita oder Gruppe für längere Zeit ganz geschlossen war.
Experten sagen, dass die langen Schulschließungen ein Fehler waren, wie würden Sie das einschätzen?
Sabine Walper: Das würde ich auch so sagen. Den Kindern ist viel verloren gegangen an Lernzeiten, und wir wissen nicht, wie das wieder aufgeholt werden soll. Die jüngste Bildungsstudie über Kinder zum Ende der Grundschulzeit zeigt, wie hoch der Anteil derer ist, die nicht einmal die Minimalstandards erfüllen. Das ist eine gewaltige Hypothek für die Kinder und die Gesellschaft.
Gibt es so etwas wie ein Corona-Trauma, das längerfristig wirkt?
Sabine Walper: Wenn Kinder gravierende Bilder vor Augen haben, etwa von sterbenden Angehörigen, kann das zu einer längerfristigen Belastung führen. Das Problem ist aber eher die schleichende Veränderung des sozialen Miteinanders, die für Kinder sehr belastend war und ihnen noch länger zu schaffen macht. Die COPSY-Studie zeigt einen starken Anstieg der Belastung bei den sogenannten Peer-Beziehungen, also bei der sozialen Gesundheit. Viele Kinder und Jugendliche haben berichtet, dass sie mit ihren Freunden nicht mehr so gut klarkommen. So etwas wird im jungen Alter eingeübt. In der Kita lernen Kinder zu teilen, zu kooperieren oder sich zurückzuhalten. In der Grundschule lernen Kinder, mit Leistungsvergleichen umzugehen. Alles das ist weggefallen.
Für viele Kinder sind Wegmarken wie Geburtstage oder Abschlussfeiern ausgefallen, welche Rolle spielt das?
Sabine Walper: Diese Übergangsrituale sind bedeutsame Marker in der Biografie. Jeder hat zu Hause ein Bild von der Einschulung mit Schultüte. Das war plötzlich nicht mehr möglich, die Einschulung fand vor dem Bildschirm statt. Da haben wir unseren Kindern sehr viel abverlangt, einen großen Verzicht. Uns war allen nicht klar, wie gravierend die Folgen sein würden.
Haben manche Kinder von dem Lockdown womöglich auch profitiert?
Sabine Walper: Die Befunde zeigen, dass manche Kinder und Jugendlichen in der frühen Phase der Pandemie erst einmal entlastet waren. Vor allem jene Kinder sind vorübergehend weniger belastet gewesen, die vorher in der Schule negative Erfahrungen gemacht haben, sei es im Leistungsbereich oder mit Gleichaltrigen, also Kinder, die ausgegrenzt oder gemobbt wurden. Für die fiel ja erstmal ein Stressor weg. Auf der anderen Seite gab es keine Chance für korrigierende Erfahrungen, etwa durch eine Lehrperson oder MitschülerInnen, die einen Streit unter Kindern oder Jugendlichen erfolgreich schlichten oder die Schwächeren schützen. Die schlimmen Kommunikationsformen in Internet hatte auch keiner mehr im Blick.
Die Pandemie ist vorbei, sind die Probleme damit auch vorbei?
Sabine Walper: Nein. Wir haben immer noch einen erhöhten Versorgungsbedarf in der Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen. Sportvereine und mehr noch andere Organisationen der Kinder- und Jugendarbeit schließen nur mühsam an die alten Mitgliederzahlen an. Aus der Kinder- und Jugendarbeit höre ich, dass eine ganze Generation an möglichen Gruppenleitern wegfällt, weil sie selbst nie Gruppenmitglied waren. Wir werden genau hinschauen müssen, inwieweit sich der neue Lebensstil verfestigt.
Welche Lehren sollten wir ziehen?
Sabine Walper: Wir haben früh gesehen, dass die von Kindern ausgehenden Infektionsrisiken gering waren, Kinder und Kitas waren keine Auslöser für ein verstärktes Infektionsgeschehen. Aus diesen Erfahrungen hätten wir früher den Schluss ziehen können, dass Kitas und Schulen offen bleiben sollten.
Wäre es sinnvoll gewesen, Kinder oder Jugendliche vor einem Lockdown in die Entscheidungsfindung einzubinden?
Sabine Walper: Unbedingt. Die Schülersprecher haben teilweise gute Ideen gehabt, Infektionsrisiken zu minimieren, aber so, dass nicht alles lahmgelegt wird. Es wäre möglich, in den Schulen Gremien zu bilden, die Vorschläge machen. Gute Lösungen finden meist diejenigen, die vor Ort die Bedingungen kennen, da sind Kinder ihre eigenen Experten. Der Lockdown war die einfachste Lösung, aber die Folgekosten, die wir uns damit eingehandelt haben, sind viel zu hoch.
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Manche Experten regen einen direkten Draht zwischen Schulen sowie Ärzten und Psychologen an. Wie sinnvoll wäre das aus Ihrer Sicht?
Sabine Walper: Die Schule ist der große Treffpunkt für alle. Das ist der Ort, wo wir am besten Prävention, Gesundheitsangebote und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe anbringen können. Daher haben wir schon lange vor der Pandemie angeregt, Gesundheitsfachkräfte in Schulen einzubinden. Das Wissen über gute Ernährung und gesundheitsschädliches Verhalten könnte so vermittelt werden. Ich bin eine Anhängerin von multiprofessionellen Teams in Bildungseinrichtungen.
Welche Schulnote würden Sie geben für die Pandemiebewältigung im Sinne der Kinder?
Sabine Walper: Im Sinne der Kinder maximal ausreichend