Protest im Wandel : Jugendliche als gesellschaftlicher Motor?
Die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit Natur und Umwelt hat junge Menschen schon vor 120 Jahren bewegt. Ein Überblick über die Historie der Jugendbewegungen.
Junge Menschen erwarten, dass ihre Fragen ernst genommen werden. Sie sind unbequem und begehren auf. Das galt für das späte 19. und für das 20. Jahrhundert, es gilt auch für das 21. Jahrhundert. Manche ihrer gegenwärtigen Ängste und Hoffnungen spiegeln Herausforderungen wider, die schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aktuell waren. Mit anderen Worten und in einer historischen Langzeitperspektive gesehen: Skepsis gegenüber der Wertorientierung an einem ungebremsten "Höher, schneller, weiter" verband sich bereits vor mehr als 100 Jahren mit dem Wunsch, in Einklang mit Natur und Umwelt zu leben. Beides stand um 1900 im Mittelpunkt vielfältiger Reformbestrebungen, ohne die der Aufbruch einstiger Jugendbewegter im Wandervogel nicht denkbar ist.
Festes Schuhwwerk, weite Röcke: Ein Gruppe Wandervogel-Mädchen 1913 beim gemeinsamen Musizieren im Wald.
Junge Menschen erwarten, dass ihre Fragen ernst genommen werden. Sie sind unbequem und begehren auf. Das galt für das späte 19. und für das 20. Jahrhundert, es gilt auch für das 21. Jahrhundert. Manche ihrer gegenwärtigen Ängste und Hoffnungen spiegeln Herausforderungen wider, die schon um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aktuell waren. Mit anderen Worten und in einer historischen Langzeitperspektive gesehen: Skepsis gegenüber der Wertorientierung an einem ungebremsten "Höher, schneller, weiter" verband sich bereits vor mehr als 100 Jahren mit dem Wunsch, in Einklang mit Natur und Umwelt zu leben. Beides stand um 1900 im Mittelpunkt vielfältiger Reformbestrebungen, ohne die der Aufbruch einstiger Jugendbewegter im Wandervogel nicht denkbar ist.
Wer zurückblickt, mag an eigene Jugenderfahrungen denken oder geneigt sein, Jugendbewegungen des 21. Jahrhunderts mit denen vergangener Epochen in Beziehung zu setzen, sie zu vergleichen. Die Umstände, unter denen Jugendliche aufwuchsen und aufwachsen, unterscheiden sich jedoch in vielfältiger Weise. Sie sind altersgruppenspezifisch, an soziale Verhältnisse und beispielsweise auch an unterschiedliche Bedingungen des Aufwachsens von Mädchen und Jungen gebunden.
Um 1900: Werben für Breitensport, Wandern und gesunde Ernährung
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzte sich die Auffassung durch, Jugend sei nicht nur ein Übergangsstadium zwischen Kindheit und Erwachsensein, sondern eine eigenständige Lebensphase. Es gelte, Heranwachsende zu schützen und ihnen Entfaltungsspielräume einzuräumen. Gleichzeitig richtete sich der Blick auch auf prekäre und ungesunde Lebensverhältnisse vieler Mädchen und Jungen in den Städten und ihre Gefährdungen, beispielsweise durch Nikotin- und Alkoholkonsum. Die jugendbewegten Anfänge um 1900 fügten sich in ein breites Spektrum kulturkritischer und lebensreformerischer Initiativen ein. Ihre Initiatoren und Mitstreiter warben mit Stichworten wie "Licht, Luft und Sonne" für Breitensport, Freibäder, das Wandern in freier Natur, gesunde Ernährung und anderes mehr.
Im Wandervogel fanden vor allem höhere Schülerinnen und Schüler, also aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Heranwachsende Möglichkeiten, sich der Kontrolle sowie Drill- und Gehorsamserziehung in Elternhaus und Schule zu entziehen. In kleinen Gemeinschaften Gleichaltriger unternahmen sie Ausflüge, übernachteten bei Bauern in Scheunen und wählten sich einfache Unterkünfte in ländlicher Umgebung für regelmäßige Treffen, bei denen sie am offenen Feuer sangen und tanzten. Jugendbewegte junge Männer trugen unter anderem Schillerkragen, die Mädchen weite Röcke und Mädchen wie Jungen feste Wanderschuhe. Sie widersprachen gesellschaftlichen Konventionen, ernteten Kritik, fanden aber auch Anerkennung.
"Besonders die Tatsache, dass Mädchen und Jungen gemeinsam unterwegs waren, nährte den Verdacht, sie könnten moralisch gefährdet sein."
Zeitgleich schlossen sich auch proletarische Jugendliche zusammen. Von Beginn an lebten sie in einem gewissen Zwiespalt zwischen dem Wunsch, nach eigenen Vorstellungen und ohne Kontrolle Erwachsener ihre freie Zeit zu verbringen, und dem Wissen, dass sie Teil eines sozialen Milieus und dessen Organisationen waren. Sie waren Jugendliche und zugleich Lehrlinge oder Arbeiter, die im Kampf um die Verbesserung ihrer Ausbildungs-, Arbeits- und Lebensbedingungen auf die Unterstützung von Partei und Gewerkschaften angewiesen waren. Besonders die Tatsache, dass Mädchen und Jungen gemeinsam unterwegs waren, nährte den Verdacht, sie könnten moralisch gefährdet sein.
Tiefe Schatten durch die Folgen des Ersten Weltkriegs
In den Jahren zwischen 1918 und 1933 gab es einerseits hoffnungsvolle Initiativen auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrt und Jugendpflege, andererseits warfen die Folgen des Ersten Weltkriegs, politische und wirtschaftliche Krisenerscheinungen einen tiefen Schatten auf das Leben und die Perspektiven Heranwachsender. Die Jugendbewegungslandschaft der Weimarer Republik umfasste eine schier unübersehbare Zahl von Gruppen, Abspaltungen und Neugründungen. Manche Gruppierungen waren mehr, andere weniger an Selbstbestimmung orientiert, sondern ausgesprochen hierarchisch gegliedert. Auch weltanschaulich war das Feld unübersichtlich, nicht selten erschwerten politische Richtungswechsel eine Einordnung in "links" und "rechts".
Zur im weiteren Sinne "bewegten" Jugend der 1920er Jahre sind überdies lockere Zusammenschlüsse Heranwachsender zu zählen, die in subkulturellen großstädtischen Milieus angesiedelt waren. Sie trafen sich auf der Straße oder auf Jahrmärkten, besuchten, sofern es für sie finanziell möglich war, Kinos und Tanzveranstaltungen, rauchten und tranken Alkohol. Sie machten aber auch Ausflüge in die Natur. Ihre Selbstinszenierungen umfassten ein breiteres Spektrum kreativer Ausdrucksmöglichkeiten. Beispielsweise trugen sie Cowboyhemden oder Lederhosen mit Hosenträgern und signalisierten auf diese Weise ihr Autonomieverständnis. "Wilde Cliquen" provozierten und galten als bedrohlich für Sicherheit und Ordnung.
Nachkriegszeit: Erziehungsgrundsätze geraten ins Wanken
Das Spektrum jugendbewegter Haltungen und Verhaltensweisen zwischen 1933 und 1945 ist ausgesprochen breit. So gab es nonkonformes Verhalten, Widerständigkeit im engeren Sinne und andererseits unauffällige Anpassung sowie schließlich auch - zumindest zeitweise - überzeugtes aktives Mitmachen im Dienste des NS-Regimes. Nach 1945 wurden im Westen jugendpflegerische und pädagogische Positionen der 1920er Jahre wieder aufgenommen; sozial- und bildungspolitisch kam Bewegung in die Gesellschaft. Erziehungsgrundsätze mit langer Tradition wie Gehorsam und Härte gerieten allmählich ins Wanken. Westeuropäische und US-amerikanische Einflüsse gewannen große Bedeutung. Teenager orientierten sich an neuen Vorbildern in Musik und Mode.
Rock'n Roll spielte bei den Halbstarkenkrawallen der 1950er Jahre eine zentrale Rolle. Deutschlandkonzerte von Bill Haley etwa mündeten 1958 in Saalschlachten zwischen Jugendlichen und der Polizei. Forderungen nach hartem Durchgreifen wurden laut. Beteiligt waren meist männliche Jugendliche im Alter von 14 bis 25 Jahren, junge Arbeiter und Handwerkslehrlinge, kaum Gymnasiasten. Es brach sich eine breite Unzufriedenheit gegen eine autoritäre, aber nicht mehr glaubwürdige Vätergeneration Bahn, die als Generationenkonflikt gedeutet wurde. Seit dieser Zeit spätestens setzte sich die Auffassung durch, dass Protest und Jugend zusammengehörten.
Ungeachtet ideologischer Verhärtung politischer Positionen in Ost und West in den Jahren des Kalten Krieges entwickelte sich nicht zuletzt über die Rezeption westlicher Rock- und Pop-Musik in der DDR jugendlicher Protest gegen den kommunistischen staatlichen Machtanspruch und den Erziehungsanspruch der Freien Deutschen Jugend, der FDJ. Jugendliche, die sich ideologisch verordneten Vereinnahmungen entziehen wollten, trafen sich in ihrer Freizeit beispielsweise in "Meuten". Diesen Begriff entlehnten sie von nonkonformen Gruppen der NS-Zeit, den "Leipziger Meuten", welche durch Kleidung und musikalische Vorlieben jenseits des offiziell Erwünschten selbstbestimmte Freiräume für sich reklamiert hatten.
Lehrlings- und Schülerbewegung in 1960er Jahren kaum in Erinnerung geblieben
"1968" wurde bekanntlich zu einem vielbeachteten Generationenlabel, an den Studentenprotesten der 1960er Jahre war jedoch lediglich ein kleiner Teil Jugendlicher und junger Erwachsener in den damaligen Umbruchjahren aktiv beteiligt. Kritische Fragen an die NS-Vergangenheit ihrer Eltern haben zwar viele von ihnen gestellt, sie waren jedoch keine Aktivisten, wie wir heute sagen würden. Kaum in Erinnerung geblieben ist die Lehrlings- und die Schülerbewegung, das Aufbegehren der "Kinder, die nach der Revolte kamen". Ein Beispiel: Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre wurde in Innenstädten mit "Rote-Punkt-Aktionen", die viel Zustimmung fanden, gegen Fahrgelderhöhungen im öffentlichen Nahverkehr demonstriert. An der Spitze der Bewegung standen Schülerinnen und Schüler sowie junge Auszubildende.
Heute ohne feste organisatorische Strukturen
In Jugendbewegungen schlossen und schließen sich Heranwachsende und junge Erwachsene zusammen, um sich untereinander auszutauschen, die Freizeit - und ein Lebensgefühl - miteinander zu teilen und/oder ihren Wünschen, Hoffnungen und Forderungen Ausdruck zu geben. Seit geraumer Zeit wird zumeist von Jugendkulturen gesprochen. Auf diese treffen zumeist ähnliche Beschreibungsmerkmale zu wie auf die meisten neuen sozialen Bewegungen, zum Beispiel der Friedens-, der Anti-Atomkraft- und Dritte-Welt-Bewegung: Die Mitglieder finden sich in ihnen locker, unverbindlich, temporär und ohne feste organisatorische Strukturen zusammen.
Demonstranten im Mai dieses Jahres bei einer "Fridays for Future"-Kundgebung in Dresden.
Für gegenwärtige Beobachtungen gilt es, zwischen globalisierungskritischen Akteuren und spezifischen Anliegen der Fridays for Future zu unterscheiden. Koalitionen letzterer mit ersteren ergeben sich wohl zumeist, wenn der Rahmen passt, also Einiges zusammenkommt: etwa schwindendes Vertrauen in die Politik, spürbare Folgen von Klimaveränderungen oder Auswirkungen von Kriegen auf Energie- und Lebensmittelpreise. Manche Aktionsformen wie Menschenketten oder Sitzblockaden haben eine lange Tradition, neu sind hingegen Social-Media-Vernetzungen, die ältere Protestbewegungen noch nicht kannten.
Zahlreiche Jugendliche schlossen und schließen sich keiner Bewegung oder jugendkulturellen Szene an. Viele wurden und werden kaum angemessen wahrgenommen, weil sie nicht öffentlich auf sich aufmerksam machten und machen. Es heißt, in der Diskussion um Jugendfragen "vergewisserten" sich Gesellschaften "der Probleme ihrer eigenen Zukunft, des Fortbestandes ihrer eigenen Werte und Verhaltensweisen, ihrer Hoffnungen und Wünsche". Eine der zentralen zivilgesellschaftlich demokratischen Aufgaben dürfte sein, ernst zu nehmen, was Jugendliche in ihren unterschiedlichen Lebenslagen bewegt, und auf ihre Zukunftsfragen überzeugende Antworten zu finden.
Die Autorin ist Professorin in Neuerer und Neuester Geschichte mit kultur- und sozialgeschichtlichen Forschungsschwerpunkten.