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Foto: picture-alliance/akg-images
Ein kleiner Junge musste herhalten für den ersten erfolgreichen Impfversuch gegen die gefürchteten Pocken 1796, hier auf einem Bild die nachgestellte Szene mit dem englischen Landarzt Edward Jenner.

Geschichte des Impfens : Kampf gegen Viren und Mythen

Impfungen brachten den medizinischen Durchbruch gegen die Seuchen dieser Welt. Aber Skepsis, Angst und Mythen sind ständige Begleiter von Impfungen.

31.01.2022
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8 Min

Die Methode klingt eigentlich zu kühn, um wahr zu sein: Ein Mensch wird absichtlich mit einem abgeschwächten Erreger infiziert, woraufhin der Körper beginnt, eine Immunabwehr aufzubauen und fortan gegen die Erkrankung geschützt ist. Die Geschichte des Impfens ist geprägt von dieser Faszination, aber auch von schweren Fehlschlägen. Neben der Euphorie der Mediziner über Werkzeuge, mit denen Viren und Bakterien als Angreifer sicher und effektiv bekämpft werden können, bleiben Skepsis, Angst, Verschwörungsmythen und politische Einflussnahme ständige Begleiter von Impfungen, bis hinein in die aktuelle Coronakrise.

Grauenhafte Seuchen wie die Pest, Typhus, Cholera oder die Pocken (Blattern) raffen schon lange vor der neuen Zeitrechnung massenhaft Menschen hinweg oder zeichnen sie schwer für das ganze Leben, darunter viele Kinder. Immer wieder auftretende Epidemien, denen die Menschen machtlos gegenüber stehen, führen früh zu Überlegungen, wie die Bevölkerung geschützt werden könnte.

Dabei spielen zwei Erkenntnisse eine zentrale Rolle: Bestimmte Krankheiten werden von Mensch zu Mensch übertragen, sind also quasi Bestandteil des sozialen Zusammenlebens. Zum anderen zeigt sich, dass manche Menschen, die eine Seuche einmal überstanden haben, nicht noch einmal daran erkranken, sie sind also offenbar immun. Aus diesen Beobachtungen ergeben sich zwei Strategien: die Isolation der Kranken und die gezielte Immunisierung der Gesunden.

Gefürchtete Pocken

Impfungen gegen die Pocken sind schon rund 200 Jahre vor der neuen Zeitrechnung aus China und Indien belegt. Die Blattern sind weit verbreitet und gefürchtet, sie führen zu einem qualvollen Tod. Aus Asien stammt die Methode, gesunden Menschen infizierten Pocken-Schorf in die Haut zu ritzen, um sie zu immunisieren. In den meisten Fällen führt die sogenannte Variolation oder Inokulation allerdings zur Erkrankung, im schlechtesten Fall zu einem neuen Ausbruch. Dennoch gelangt die Methode bis nach Europa und wird dort schon Anfang des 18. Jahrhunderts angewendet.

Die Pocken (lateinisch: Variola) verbreiten sich über Tröpfcheninfektion oder kontaminierte Gegenstände, der Erreger ist ein Virus. Die Haut der Betroffenen ist übersät mit übel riechenden, hochinfektiösen Pusteln, die verschorfen und flächendeckend Narben hinterlassen. Das Robert Koch-Institut (RKI) gibt die Letalität bei Blattern mit 30 Prozent für nicht Geimpfte an. Auch Überlebende tragen schwere Schäden davon, werden blind, taub oder gelähmt. Die Krankheit ist so gefährlich, dass sie heute noch, in geheimen Laboren gezüchtet, als potenzielle terroristische Bedrohung angesehen wird.

Wer die Pocken überlebt, hat meist eine lang anhaltende Immunität. Da es auch in Europa immer wieder zu Pocken-Epidemien kommt, ist eine mögliche Impfung von größtem Interesse. Es dauert allerdings, bis der englische Landarzt Edward Jenner (1749-1823) 1796 die weniger gefährlichen Kuhpocken zur Immunisierung einsetzt und dieses erfolgreiche Verfahren bekannt macht.

Jenner probiert die Pocken-Impfung ungeachtet der Gefahren erstmals an dem achtjährigen Sohn seines Gärtners aus. Er infiziert den Jungen zunächst mit Kuhpocken, was zur Erkrankung führt, und dann mit Blattern, der Junge bleibt gesund. Jenner nennt seine Methode Vaccination nach dem lateinischen Wort für Kuh: vacca.

So fragwürdig die Menschenversuche Jenners sind, begründen sie doch das moderne Impfzeitalter, denn die Immunisierung gegen Pocken verbreitet sich in Europa schnell. Das Königreich Bayern führt 1807 als erster Staat eine Impfpflicht gegen Pocken ein. Nach weiteren schweren Ausbrüchen wird mit der Verabschiedung des Reichsimpfgesetzes 1874 in Deutschland eine allgemeine Pocken-Impfpflicht für Kinder eingeführt, die mehr als hundert Jahre bestehen bleibt.

Wer sich weigert, muss mit Geld- oder Haftstrafen oder einer Zwangsimpfung rechnen. 1980 erklärt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Pocken nach einer mehr als 3.000 Jahre währenden Seuchengeschichte als bisher einzige Infektionskrankheit offiziell für ausgerottet. 1982 wird die Impfpflicht gegen Pocken in der DDR aufgehoben, ein Jahr später auch in der BRD.

Grippe und Krieg

Die Durchsetzung der Impfpflicht ist nur gegen erheblichen Widerstand von Gegnern, Skeptikern und Verschwörungsanhängern durchsetzbar, die sich teilweise in größeren Gruppen organisieren. So wird schon bald nach Jenners Erfolg das abseitige Gerücht verbreitet, die Verwendung der Kuhpocken würde Menschen in Kühe verwandeln. Befürchtet werden auch Änderungen des Charakters aufgrund von Impfstoffen aus tierischem Ausgangsmaterial. Manche Impfgegner wittern eine jüdische Weltverschwörung oder die absichtliche Infektion mit anderen Krankheiten. Esoteriker und Naturheilkundler glauben, dass eine naturnahe Lebensweise alle Impfungen überflüssig macht. Diese Ansicht ist heute noch verbreitet.

1918 bricht eine katastrophale Grippe-Pandemie aus. Die sogenannte "Spanische Grippe" verbreitet sich rasant, verläuft in mehreren Wellen und fordert global geschätzt 20 bis 50 Millionen Tote. Zum Vergleich: Im gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkrieg sind rund 17 Millionen Menschen gestorben, darunter 9,5 Millionen Soldaten. Mediziner sind ratlos, zumal die Grippe auch junge, robuste Erwachsene tödlich trifft. Erst Anfang der 1930er Jahre gelingt es britischen Forschern, das Influenza-A-Virus zu isolieren. Wenig später beginnen klinische Studien mit Impfstoffen gegen Grippe. Ab 1945 steht in den USA eine lizenzierte Grippe-Schutzimpfung zur Verfügung.

Grippeviren treten im vergangenen Jahrhundert global in gefährlichen Varianten epidemisch oder pandemisch auf, von der "Asiatischen Grippe" über die "Hongkong-Grippe" bis zur "Russischen Grippe". 2009 wird die "Schweinegrippe" nachgewiesen und verbreitet sich pandemisch. Grippeviren mutieren ständig, heute werden Influenza-Impfstoffe daher jedes Jahr neu angepasst.

Bei der "Spanischen Grippe" sterben Betroffene oft nicht an der Virusinfektion, sondern an einer bakteriellen Lungenentzündung als Folge der Erkrankung, und Antibiotika stehen noch nicht zur Verfügung. 1941 wird der erste Patient mit Penicillin behandelt, ab 1956 beginnt in den USA die industrielle Produktion des Antibiotikums. Das Wissen über Viren und Bakterien ist Anfang des 20. Jahrhundert noch wenig entwickelt. Zu der Zeit gibt es nach einer Aufstellung des US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC) jedoch bereits Impfstoffe gegen Pocken, Tollwut, Typhus, Cholera und die Pest.

Grausame Versuche

Die Nazis sind trotz ihrer Gesundheitsdiktatur hin- und hergerissen zwischen Impfskepsis und der Angst vor einer Schwächung des Militärs durch Infektionskrankheiten. Im Zweiten Weltkrieg ist neben Tuberkulose auch das gefürchtete Fleckfieber ein Problem, eine bakterielle Infektion, die durch Kleiderläuse auf Menschen übertragen wird und oft tödlich verläuft. Die Nazis experimentieren im KZ Buchenwald erfolglos mit fragwürdigen Impfstoffen gegen das Fleckfieber und quälen dabei viele Häftlinge zu Tode. Heute werden Antibiotika gegen Fleckfieber und Tuberkulose eingesetzt, einen wirksamen Impfstoff gibt es nicht, oder er wird nicht empfohlen.

Kampf der Systeme

Nach dem Krieg werden Impfungen zum Instrument im Kampf der politischen Systeme, wobei der Osten auf die Impfpflicht setzt, der Westen auf Freiwilligkeit, mit Ausnahme der Pocken-Impfung. Der Historiker Malte Thießen schreibt: "Während des Kalten Krieges eröffnet der Wettbewerb um die bessere Vorsorge eine Arena, in der Bundesrepublik und DDR um das bessere Gesellschaftsmodell streiten." Nach einem erweiterten, freiwilligen Vorsorgeangebot in den 1950er Jahren verpflichtet die DDR ihre Bevölkerung Anfang der 1960er Jahre zur umfassenden Immunisierung. Der DDR-Impfkalender, schreibt Thießen, sieht bis zu 17 Pflichtimpfungen bis zum 18. Lebensjahr vor, darunter gegen Poliomyelitis, Tetanus, Tuberkulose, Masern und Keuchhusten (Pertussis). Das Motto lautet: "Sozialismus ist die beste Prophylaxe."

Insbesondere die Kinderlähmung, die in den 1960er Jahren gehäuft auftritt, wird im Systemkampf instrumentalisiert. Polio ist eine hochansteckende Viruserkrankung, die zu Lähmungen der Arme, Beine und der Atmung führen kann, nicht nur bei Kindern. In der DDR wird die Polio-Impfung 1961 Pflicht, im Westen bleibt es bei einer Empfehlung. Dort steigen die Fallzahlen so besorgniserregend an, dass die DDR der BRD sogar Impfhilfe anbietet, was die Regierung allerdings ablehnt. Viele schwer kranke Kinder mit Atemlähmungen müssen in die "Eiserne Lunge", es stehen aber zu wenige Geräte bereit, die Folge ist die berüchtigte Triage, das Überleben wird zur Glücksache.

Die erste wirksame Impfung gegen Polio wird 1955 in den USA von dem Mediziner Jonas Salk entwickelt. Der Virologe Albert Bruce Sabin bringt Jahre später eine erfolgreiche Schluckimpfung auf den Markt. Eine Aufklärungskampagne mit dem Slogan "Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam" führt schließlich auch im Westen Deutschlands zum Erfolg. Heute gilt Polio in Deutschland als ausgerottet, nicht aber global.

In der DDR besteht ab den 1960er Jahren für Kinder auch eine Impfpflicht gegen Diphtherie, den berüchtigten "Würgengel der Kinder". Die hochansteckende bakterielle Infektionskrankheit führt zu Erstickungsanfällen. Viele Kinder sterben, bis der Mediziner Emil von Behring (1854-1917) eine Therapie aus Blutserum entwickelt. Zunächst steht nur eine Passivimpfung gegen Diphtherie zur Verfügung, ab 1923 eine sichere und effektive aktive Schutzimpfung. Behring bekommt rührende Dankesbriefe geschickt. In einem heißt es: "Es ist einer gekommen, den hat der Himmel auf die Stirn geküsst." Behring wird 1901 für die Serumtherapie mit dem ersten Nobelpreis für Medizin geehrt.

Während in den 1980er Jahren todbringende Krankheiten wie die Pocken oder Polio durch Impfungen eliminiert werden können, taucht eine neue, verheerende Seuche auf: das Humane Immundefizienz-Virus (HIV). Schwerwiegende Symptome der Infektion werden erstmals in den USA unter schwulen Männern registriert, die Krankheit bekommt daher 1981 vorübergehend die Bezeichnung GRID für Gay Related Immuno Deficiency. Ein Jahr später, als klar wird, dass nicht nur Schwule betroffen sind, wird der Name AIDS (Acquired Immuno Deficiency Syndrom) eingeführt. 1983 wird das HI-Virus (HIV-1) erstmals isoliert.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind bis heute rund 36 Millionen Menschen an AIDS gestorben, etwa 38 Millionen Menschen leben mit HIV. Eine Impfung gegen HIV/AIDS gibt es nicht, dafür aber Medikamente, mit denen das Fortschreiten der Krankheit verzögert oder aufgehalten werden kann. Die Therapie ist aber nicht für alle Betroffenen zugänglich oder erschwinglich. Abgesehen davon werden AIDS-Kranke über viele Jahre stigmatisiert. Es dauert lange, bis sich Toleranz, Aufklärung und Fakten durchsetzen.

Seit Beginn der Massenimpfungen kommt es bei allen durchschlagenden Erfolgen immer wieder zu Rückschlägen und unerwarteten Nebenwirkungen, die das Impfen vorübergehend in Verruf bringen. Dabei spielen neben Produktionsfehlern auch Übereifer und unzureichende Qualifikationen eine Rolle. In Erinnerung geblieben ist exemplarisch das Impfunglück von Lübeck 1930. Zu der Zeit ist die Lungenkrankheit Tuberkulose verbreitet, die in vielen Fällen tödlich verläuft. Robert Koch (1843-1910) entdeckt zwar 1882 den Erreger, das Mycobacterium tuberculosis, schafft es aber nicht, eine Therapie zu entwickeln. Sein "Tuberkulin" erweist sich als Fehlschlag.

Schwere Zwischenfälle

Dafür entwickeln die Franzosen Albert Calmette und Camille Guérin einen abgeschwächten Lebendimpfstoff, der wegen mangelnder Wirksamkeit in Deutschland aber umstritten ist. Dennoch entscheiden sich der Lübecker Krankenhausdirektor Georg Deycke und der Leiter des dortigen Gesundheitsamtes, Ernst Altstaedt, die Schluckimpfung anzubieten. Durch die gemeinsame Lagerung in einem Labor werden die Impfstoffe mit ansteckenden Tuberkulosebakterien kontaminiert. In der Folge erkranken viele Kinder, 77 sterben an "Fütterungstuberkulose". Später werden die Verantwortlichen vor Gericht gestellt und verurteilt. Der Fall wird 1964 sogar verfilmt.

Auch mit Beginn der Polio-Impfungen 1955 kommt es in den USA durch Mängel bei der Herstellung zu einem schweren Zwischenfall, nachdem aktive Polioviren in den eigentlich inaktivierten Impfstoff gelangen. Dadurch werden zahlreiche Kinder schwer geschädigt. Das nach dem Hersteller benannte Cutter-Unglück löst auch in Deutschland vorübergehend große Bedenken gegen Impfungen aus.

Die Bedenken sind längst gewichen, der Impferfolg ist allzu offenkundig. Um die Bevölkerung mit Impfterminen nicht zu überfordern, werden heute Kombinationsimpfungen angeboten, mit denen eine gleichzeitige Immunisierung gegen mehrere Krankheiten möglich ist. Von der Ständigen Impfkommission (Stiko) empfohlen wird für Kleinkinder der sechsfach-Impfstoff gegen Diphtherie, Tetanus, Polio, Pertussis, Haemophilus influenzae Typ b (Hib) und Hepatitis B.

Gängig ist auch die Kombi-Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR). Eine Vierfach-Impfung schützt zusätzlich gegen Windpocken (MMRV). Seit März 2020 gilt in Deutschland eine indirekte Impfpflicht gegen Masern für Kinder vor Eintritt in Kitas oder Schulen sowie für Personal in Gemeinschaftseinrichtungen. Eine Impfung gegen mehrere Infektionskrankheiten, darunter Masern und Tetanus, ist auch für Soldaten verpflichtend.

Medizinhistoriker gehen davon aus, dass mit Impfungen mehrere hundert Millionen Leben gerettet werden konnten. So erfolgreich Impfungen in der langjährigen Betrachtung auch sind, die Methode leidet unter dem Vergessen. Wenn eine Krankheit erst einmal unter Kontrolle ist, geraten Furcht und Not schnell aus dem Blick. Epidemiologen warnen jedoch: Neue Erreger warten auf ihren Durchbruch, und bekannte Infektionen können wieder zurückkommen.