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Kinderarzt im Interview : "Wir müssen den Eltern einen Freiraum lassen"

Der Kinderarzt, Jörg Dötsch, hält den Wunsch nach einer allgemeinen Impfpflicht für nachvollziehbar. Trotzdem würde er Impfskeptiker lieber überzeugen.

31.01.2022
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5 Min

Herr Dötsch, die meisten Kinder, die sich mit Covid-19 infizieren, zeigen milde Symptome. Ist das Virus in seinen diversen Varianten für Kinder ungefährlich?

Jörg Dötsch: Die meisten Kinder und Jugendlichen zeigen tatsächlich milde Symptome, es gibt aber Ausnahmen. Ausgenommen sind Kinder mit Vorerkrankungen. Wir wissen, dass schweres Asthma, eine schwere Mehrfachbehinderung oder schwere Organerkrankungen dazu führen können, dass Kinder auch einen schwereren Covid-Verlauf haben, sich auf der Intensivstation wiederfinden und im schlimmsten Fall sogar sterben.

Foto: MedizinFoto Köln

Jörg Dötsch rät Eltern, sich nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) zu richten.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit Covid-19 auf eine Intensivstation kommen?

Jörg Dötsch: Für gesunde Kinder ist die Wahrscheinlichkeit gering. Wir hatten aber vor allem in der Frühphase der Pandemie Fälle, dass mit Covid infizierte Kinder eine zweite Erkrankungswelle durchgemacht haben, das sogenannte Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS). Durch eine überschießende Immunantwort können betroffene Kinder schwer erkranken, auch Kinder ohne Vorerkrankungen.

Welche Rolle spielt Long-Covid?

Jörg Dötsch: Wir wissen, dass es das auch bei Jugendlichen gibt, aber seltener als bei Erwachsenen. Noch seltener kommt es bei Kindern vor. Es ist schwer, genau zu sagen, wie viele Kinder betroffen sind. Einige Symptome können auch Folge einer Langzeitbelastung sein, etwa Müdigkeit, Abgeschlagenheit oder Schlafstörungen. Das kann auf eine Depression hindeuten, die wir in der Pandemie bei Kindern häufiger sehen. Das macht die Differenzierung so schwierig.

Eltern machen sich Gedanken, ob sie ihren Kindern eine Corona-Impfung zumuten wollen. Was raten Sie?

Jörg Dötsch: Ich würde Eltern raten, sich nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko) zu richten. Das ist eine hochkarätige, unabhängige Einrichtung mit maximaler Sachkenntnis. Vorsichtige Eltern sollten wissen, dass auch die Stiko sich vorsichtig äußert, insofern ist das ein guter Maßstab. Gleichzeitig gibt es Grenzsituationen, in denen die Stiko sagt, Kinder können geimpft werden, aber die Daten sind noch nicht abschließend ausgewertet. Das betrifft etwa die gesunden Fünf- bis Elfjährigen. Hier würde ich aufgrund der bislang geringen Nebenwirkungsrate zur Impfung raten, wenn die Eltern selbst ein gutes Gefühl dabei haben.

Müssen Kinder mit anderen Nebenwirkungen rechnen als Erwachsene?

Jörg Dötsch: Im Prinzip nein. Wir wissen, dass die Herzmuskelentzündung die gravierendste Nebenwirkung einer Corona-Impfung sein kann. Sie tritt häufiger bei Jungen als bei Mädchen auf und ist bei jugendlichen Jungen zehn Mal häufiger als bei Kindern. Aber auch bei den jugendlichen Jungen ist sie mit etwa 50 Fällen auf eine Million Impfungen eine seltene Nebenwirkung, die zum Glück nach bisherigen Erfahrungen immer wieder komplett ausheilt.


„Als Erwachsene müssen wir in erster Linie die Kinder schützen, nicht die Kinder uns.“
Jörg Dötsch

Welchen Unterschied macht es für das Impfrisiko, ob ein Kind zwei Jahre alt ist, acht oder zwölf?

Jörg Dötsch: Kinder haben in ihren Entwicklungsphasen sowohl ein unterschiedliches Immunsystem als auch eine unterschiedliche Verstoffwechselung von Medikamenten. Deswegen lassen sich die Ergebnisse für eine Altersgruppe nicht auf eine andere übertragen. Wir haben das in der Vergangenheit auch bei Antibiotika gesehen, wenn Ergebnisse von älteren Gruppen auf jüngere Kinder übertragen wurden, kam es teilweise zu gravierenden, sogar tödlichen Nebenwirkungen. Deswegen ist ein für jede Altersgruppe spezifisches Nebenwirkungsprofil so wichtig. Da gibt es große Unterschiede.

Erwogen wird eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona. Wie stehen Sie dazu?

Jörg Dötsch: Aus Sicht der Kinder- und Jugendmedizin ergibt sich zumindest kein Argument für eine Impfpflicht in dieser Altersgruppe. Als Erwachsene müssen wir in erster Linie die Kinder schützen, nicht die Kinder uns. Zum anderen haben infizierte Kinder in der Regel keine schweren oder gar tödlichen Verläufe. Es gibt also keinen Grund, Kinder und Jugendliche verpflichtend zu impfen.

Mit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht für Erwachsene könnten Sie aber leben?

Jörg Dötsch: Als Arzt würde ich mir natürlich wünschen, Menschen zu überzeugen, etwas zu tun, das zum Schutz insbesondere vulnerabler Gruppen in der Gesellschaft nötig ist. Es wäre auch sehr schön, wenn wir alle erkennen würden, wie wichtig es ist, zusammenzuhalten, um die Corona-Pandemie in den Griff zu bekommen. Wenn es aber keinen anderen Weg gibt, um die Pandemie zu beenden und damit auch unsere Freiheit wiederzugewinnen, kann ich die Überlegung zu einer allgemeinen Impfpflicht gut nachvollziehen.

Diskutiert wird auch über eine Impfplicht für ältere Menschen. Ist das Risiko für vulnerable Ältere immer größer als für vulnerable Jüngere?

Jörg Dötsch: Ja, das kann man sicher so sagen. Vulnerable Ältere haben ein deutlich erhöhtes Risiko im Vergleich zu jüngeren Menschen. Das Immunsystem von Kindern ist stärker zur Virusabwehr fähig, selbst wenn sie Vorerkrankungen haben. Bei den älteren Menschen kommen Vorerkrankungen und das gealterte Immunsystem zusammen. Bei ihnen ist das Risiko für schwere Verläufe deutlich erhöht.

Foto: picture alliance/photothek/Florian Gaertner
Jörg Dötsch
ist Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Uniklinik Köln und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Er ist zugleich Mitglied im Corona-Expertenrat der Bundesregierung.
Foto: picture alliance/photothek/Florian Gaertner

Welche Erfahrungen haben Sie gemacht, wenn Sie mit Eltern über Corona-Impfungen sprechen?

Jörg Dötsch: Die meisten Eltern wollen vor allem ihre Kinder schützen und das Richtige tun. Es wird sehr deutlich, dass Eltern ausreichend Zeit und Informationen brauchen, um sich für eine Impfung ihrer Kinder zu entscheiden. Wir sollten den Eltern deswegen sehr ehrlich begegnen und sie über die möglichen Nebenwirkungen, seien sie auch noch so selten, aufklären. Wir müssen ihnen den Freiraum für eine fundierte Entscheidung lassen. Wenn Eltern auf diese Weise nicht unter Druck gesetzt werden, kann mehr erreicht werden, weil weniger Misstrauen entsteht.

Gibt es noch Eltern, die ihre Kinder gar nicht impfen lassen?

Jörg Dötsch: Ja, das gibt es immer noch. Bei Eltern mit bestimmten Weltanschauungen halten sich Überzeugungen, dass es für die Kinder wichtig sei, Infektionen durchzumachen. Das wird als Auseinandersetzung mit der Natur verstanden. Das Natürliche hat für die Eltern eine besondere Bedeutung. Manchen Eltern bereitet auch die aktive Entscheidung für ein Kind Schwierigkeiten im Vergleich zu einer Erkrankung, die passiv erduldet wird. Es ist wichtig, diese Eltern anzuhören und ihnen nicht vorzuwerfen, sie seien an der Gesundheit ihrer Kinder nicht interessiert. Es hat keinen Sinn, mit Eltern in eine Konfrontation zu gehen, eine Vertrauensbasis ist besser.

Wie gehen Sie im Impfskeptikern oder Corona-Leugnern um?

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Jörg Dötsch: Ich habe kein Verständnis für Corona-Leugner und Extremisten, die auf Demonstrationen ihre demokratiefeindlichen Ziele durchsetzen wollen. Wichtig ist, aus dieser Situation langfristige Schlüsse zu ziehen. Sinnvoll wäre beispielsweise ein Gesundheitsunterricht an Schulen, ein Unterricht zur gesunden Entwicklung des Menschen. Wir sollten versuchen, viel stärker als bisher Kindern einen Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen hinsichtlich der eigenen Gesundheit zu ermöglichen, um sie auf den richtigen Weg zu bringen. Diese frühkindliche Aufklärung müsste alle Schultypen umfassen. Kinder sollten früh lernen, dass die Wissenschaft sie nicht mit falschen Nachrichten versorgt.

Wie groß ist Ihre Sorge vor einer andauernden Pandemie?

Jörg Dötsch: Das Virus überrascht uns immer wieder, weil es sich kontinuierlich verändert. Es ist denkbar, dass sich neue Varianten ergeben, die gefährlicher sind. Deswegen müssen sich möglichst viele Menschen impfen lassen und dem Virus die Chance nehmen, neue Mutanten zu bilden.