Reichsbürger : Wirre Gedanken, reale Gefahren
Sicherheitsbehörden haben die Verschwörungstheoretiker inzwischen auf dem Schirm.
Die fernsehwirksamen Bilder der Festnahmen verfehlten ihre Wirkung nicht. 25 Menschen hatte die Bundesanwaltschaft am Mittwoch voriger Woche teils vor laufenden Kameras in Gewahrsam nehmen lassen, darunter frühere Bundeswehr-Offiziere und Polizeibeamte, die Richterin und ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann sowie Heinrich XIII. Prinz Reuß, der - so die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" - "verhinderte König von Deutschland". Der Verdacht: versuchter Staatsstreich.
Zwar wurden hinterher bisweilen Zweifel geäußert, ob die Gruppe aus vielfach bereits in die Jahre gekommenen Mitgliedern zu einer Art Putsch denn überhaupt in der Lage sei. Gleichwohl werfen die Karlsruher Ermittler 22 der Festgenommenen vor, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein, die das politische System stürzen wollte. Drei Festgenommene gelten als Unterstützer. Das wiederum bestärkt den Eindruck, der sich unter Sicherheitsexperten bereits seit längerem breitmacht: Dass die Szene der "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" ernster zu nehmen sei, als es für manche früher den Anschein hatte.
Eine vielfältige Szene
Zu Beginn wurden Menschen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und die staatlichen Organe nicht anerkennen, deshalb eigene Pässe ausstellen und keine Steuern zahlen, bespöttelt. Es war von "Spinnern" die Rede, die man außer Acht lassen könne - obwohl aus Bundespolitik und Ländern teils auf eine verschärfte Gangart gedrängt wurde. Noch im November 2016 verlautete aus Berliner Sicherheitskreisen, das damals von Präsident Hans-Georg Maaßen geführte Bundesamt für Verfassungsschutz werde sie nicht überwachen. Denn es gebe zwar "einige hundert" "Reichsbürger", darunter auch gefährliche. Doch sie seien nicht allesamt rechtsextremistisch und überdies nicht bundesweit vernetzt. Kurz zuvor hatte ein "Reichsbürger" in Franken vier Polizisten attackiert, einer von ihnen starb. Seit Dezember desselben Jahres führt das Bundesamt für Verfassungsschutz Reichsbürger und Selbstverwalter allerdings als Beobachtungsobjekt.
Tatsächlich ist die Szene vielfältig. Sie zerfällt in zahlreiche Gruppen sowie vermeintliche Einflussgebiete. Für besonderes Aufsehen sorgte zum Beispiel Peter Fitzek, der in Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) 2012 das "Königreich Deutschland" ausrief, eigenes Geld ausgab und dabei Anhänger um sich scharte. Die folgende Auseinandersetzung des immer aggressiveren Fitzek mit den Behörden dauerte Jahre. Ruhe kehrte erst ein, als er zu einer Haftstrafe verurteilt und Zwangsgelder gegen ihn vollstreckt wurden. Dennoch galt eine ganze Weile: Eine bundesweite Vernetzung sei nicht zu sehen. Deshalb: keine Gefahr!
Verfassungsschutz zählt 23.000 "Reichsbürger"
Mittlerweile hat sich die Einschätzung grundlegend geändert. Im jüngsten Jahresbericht zählt der Verfassungsschutz 23.000 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter", 2.000 mehr als im Vorjahr. Rund fünf Prozent gelten als Rechtsextremisten. Die ideologische Bandbreite der Szene begünstige ihr hohes Personenpotenzial, heißt es in dem Papier. Die Zeiten der Verharmlosung sind vorüber.
Das hat mit der Militanz zu tun, die sich in Zahlen offenbart. Der Inlandsnachrichtendienst hält 2.100 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" für gewaltbereit. Das umfasst nicht zuletzt Personen, die laut Bericht durch Drohungen oder gewaltbefürwortende Äußerungen sowie entsprechende ideologische Bezüge auffallen. So wurden laut Zahlen des Bundesinnenministeriums von Mai 2022 der Szene im Jahr 2021 1.335 extremistische Straftaten zugerechnet, beinahe doppelt so viele wie im Vorjahr - darunter 239 Gewalttaten.
Reichsbürger ermordet Polizisten
Nur wenige wurden überregional bekannt. Da war zunächst der bereits erwähnte Polizistenmord im fränkischen Georgensgmünd, der 2016 für Entsetzen sorgte und zeigte, was auch im Verfassungsschutzbericht steht: Dass "Reichsbürger" eine hohe Affinität zu Waffen haben. Das zuständige Landratsamt Roth hatte eine Durchsuchung bei dem 49-Jährigen angeordnet, um Waffen, die er legal besaß, wegen Unzuverlässigkeit sicherzustellen. Daraufhin eröffnete der Mann das Feuer. Der Bürgermeister von Georgensgmünd, Ben Schwarz (SPD), sagte, Anlass zur Besorgnis habe es im Vorfeld nicht gegeben. Der Täter galt als seltsam, sonst nichts. Weniger Wochen zuvor hatte ein anderer Reichsbürger bei einer Zwangsräumung ebenfalls das Feuer auf Polizeibeamten eröffnet und einen Beamten verletzt.
Ein ähnlicher Fall ereignete sich im April dieses Jahres in Boxberg-Bobstadt (Baden-Württemberg). Dort schoss ein Mann auf ein Sondereinsatzkommando; zwei Polizisten wurden verletzt. Sie wollten das Haus wegen des Verdachts auf illegalen Waffenbesitz durchsuchen.
Nach der Razzia gegen die "Reichsbürger"-Szene debattiert der Bundestag über die Folgen. Harte Kritik wird an der AfD geübt.
Nach den Razzien gegen die mutmaßlichen Reichsbürger-Putschisten stehet Ermittlern und Staatsanwaltschaft noch viel Arbeit bevor.
Schließlich sprengte die Polizei eine Gruppe, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) in einer Talkshow überwältigen und als Geisel nehmen wollte. Rädelsführerin soll eine 75 Jahre alte Frau aus Sachsen gewesen sein. Diese Gruppe war gerade im Begriff, sich Waffen zu besorgen, und wurde dabei festgesetzt.
Oft wirken die Pläne zumindest auf den ersten Blick größer als das Vermögen derer, die sie in die Tat umsetzen wollen. Vielleicht kommt auch daher der Glaube mancher in der Öffentlichkeit, die Gefahr sei zu vernachlässigen. Das ändert an der Gefahr gleichwohl nichts. Dies zeigt zum Beispiel der Sturm auf die Reichstagstreppe im August 2020 am Rande einer Demonstration von Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern.
"QAnon" entstand in den USA
Die nun aufgeflogene Gruppe speiste sich ideologisch nicht nur aus dem Spektrum der Reichsbürger, auch auf die noch bizarreren Verschwörungsmythen aus dem "QAnon"-Dunstkreis stießen die Ermittler. Diese 2017 in den USA im Netz entstandene Szene hat sich übers Internet inzwischen global und auch in Deutschland verbreitet. Ihre Anhänger wähnen sich in einem Kampf gegen die Eliten des Deep State (Tiefen Staates). Den Eliten werden unter andrem satanistische und pädophile Handlungen unterstellt, die Mythen sind teils stark antisemitisch aufgeladen. "QAnon"-Verschwörungstheoretiker waren unter den Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, die versuchten, Anfang 2021 das Kapitol zu stürmen, um die Zertifizierung der Wahl zu verhindern.
Als "merkwürdige Mischung" bezeichnete der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, jüngst in den "Tagesthemen" diese Melange. "Wir sehen Reichsbürger, die gemeinsam mit Personen aus dem Rechtsextremismus agieren, aber auch aus der Verschwörungstheoretiker-Szene. Viele "QAnon"-Leute fühlen sich angesprochen durch die Reichsbürgerideologie". All diese Gruppen eine: "Sie wollen diesen Staat überwinden", warnte Deutschlands oberster Verfassungsschützer.
Extremisten in Behörden
Dass die Sicherheitsbehörden aufmerksamer geworden sind, hat außerdem damit zu tun, dass unter den Festgenommenen stets aufs Neue Soldaten oder Polizisten sind. Der bekannteste Fall der vergangenen Jahre ist der des Bundeswehroffiziers Franco A., der 2017 festgenommen und mittlerweile zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Er hatte sich als syrischer Flüchtling ausgegeben und bei Behörden sogar erfolgreich Asyl beantragt. Später gab Franco A. an, er habe mithilfe dieser falschen Identität die Schwachstellen im deutschen Asylsystem aufzeigen wollen. Die Bundesanwaltschaft glaubt hingegen, Franco A. habe die Absicht gehabt, nach einem möglichen Anschlag den Verdacht auf Flüchtlinge zu lenken.
Ein KSK-Soldat zählt zu den Verdächtigen
Verschiedene und sich erhärtende rechtsextremistische Verdachtsfälle wurden ferner beim Kommando Spezialkräfte (KSK) ruchbar, das als Konsequenz fast aufgelöst worden wäre. Auch im aktuellen Fall zählt ein KSK-Soldat zu den Verdächtigen, was Beobachter fragen lässt, ob von offiziellen Stellen mit der notwendigen Härte durchgegriffen wird. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Rechtsextremismus-Fälle in der Polizei von Hessen oder Nordrhein-Westfalen.
Der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hatte nach der Erstellung des ersten Lagebildes zum Rechtsextremismus in den Sicherheitsbehörden im Oktober 2020 erklärt, er sehe "kein strukturelles Problem". Der Bericht hatte 377 rechtsextremistische Verdachtsfälle bei Polizei und Nachrichtendiensten benannt - und 1.064 bei der Bundeswehr. Doch schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung tauchten neue Fälle auf.
Unter allen Umständen bleibt das Problem, dass Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden eine doppelte Gefahrenquelle darstellen: Sie besitzen in der Regel Waffen oder wissen, wie man an Waffen gelangt. Und sie verfügen über sensible Informationen - über potenzielle Opfer oder etwaige Lücken in den Sicherheitskonzepten von Institutionen und kritischen Infrastrukturen.
Verfassungsschutzpräsident: Mehr als nur Einzelfälle
"Es sind mehr als Einzelfälle", sagte Verfassungsschutzpräsident Haldenwang zu Extremisten im Staatsdienst, betonte aber, dass die "große überwältigende Masse (...) fest auf dem Boden des Grundgesetzes" stehe. Er plädierte für eine obligatorische Sicherheitsüberprüfung, wenn Sicherheitsbehörden neue Mitarbeiter einstellen. Diskutiert wird auch eine Verschärfung des Disziplinarrechts, um verfassungsfeindliche Beamte schneller aus dem Amt entfernen zu können. Wer Umsturzfantasien habe und die demokratische Grundordnung überwinden wolle, der habe nichts mehr im öffentlichen Dienst zu suchen, hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kurz nach der Razzia als Losung ausgegeben.