Mangelhafte Aufklärung : Kultur des Schweigens
Nach Jahren der verschleppten Aufarbeitung in der katholischen Kirche liegen die Erwartungen nun bei der Politik. Doch die rechtlichen Möglichkeiten sind begrenzt.
Kurz nachdem im Januar 2010 der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche in Deutschland öffentlich geworden war, kam es zu einem recht einmaligen Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik: Die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) äußerte im Februar 2010 in den "Tagesthemen" die Erwartung, dass die katholische Kirche "endlich konstruktiv" mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten müsse, um Taten aufzuklären.
In der katholischen Kirche sind auch Messdiener von Priestern missbraucht worden. Einige Fälle sind öffentlich geworden, viele andere liegen vermutlich noch im Dunkeln, weil Betroffene aus Scham oder anderen Gründen schweigen.
Ihr Eindruck sei, dass die Verantwortlichen bisher "kein aktives Interesse" an lückenloser Aufklärung gezeigt hätten. Das rief den damaligen Vorsitzenden der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, den Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, auf den Plan. Er sprach von einer "Attacke" und stellte der Justizministerin ein Ultimatum, sie müsse ihre unwahren Behauptungen binnen 24 Stunden zurücknehmen.
Untersuchungen verschleppt
Den Vorwurf, katholische Verantwortungsträger hätten kein Interesse an einer Aufklärung der Fälle, die drei Wochen zuvor am Berliner Canisius-Kolleg offenkundig geworden waren, widersprach er. Er lege "sehr viel Wert darauf, dass die Fälle aufgeklärt werden", erklärte Zollitsch.
Heute wissen wir, öffentliche Willensbekundung und tatsächliches Handeln klaffen im Fall Zollitsch weit auseinander: Zollitsch soll einem im April veröffentlichten Missbrauchsbericht für das Erzbistum Freiburg zufolge erst am Ende seiner Amtszeit wegen des steigenden medialen Drucks Missbrauchsfälle nach Rom gemeldet und damit kirchenrechtliche Untersuchungen verschleppt haben. Zollitsch war von 2003 bis 2013 Erzbischof von Freiburg, zuvor schon 20 Jahre als Personalreferent in der Diözese. Von 2008 bis 2014 war er zudem Vorsitzender der katholischen Deutschen Bischofskonferenz.
Nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals 2010 soll Zollitsch es unterlassen haben, mutmaßliche Täter beim Heiligen Stuhl anzuzeigen, wie es seine Pflicht gewesen wäre. Ihm wie auch seinem Amtsvorgänger werfen die unabhängigen Gutachter in dem 600-seitigen Bericht "massive Vertuschung" und "Ignoranz geltenden Kirchenrechts" vor.
Im Oktober vergangenen Jahres erklärte Zollitsch, ihn habe "lange, zu lange Zeit" in seiner Haltung und seinem Handeln "viel zu sehr das Wohl der katholischen Kirche und viel zu wenig die Anteilnahme am Leid der Betroffenen und die Fürsorge für die Opfer" geleitet.
Mehr als die Hälfte der 27 katholischen (Erz-)Bistümer hat mittlerweile, ausgehend von der 2018 veröffentlichten zentralen sogenannten MHG-Studie, eigene Missbrauchsstudien veröffentlicht - mit sich ähnelnden Ergebnissen.
Zum Vergleich: In der evangelischen Kirche fehlen ähnliche Untersuchungen für die 20 Landeskirchen weitgehend, bislang wurden nur einzelne Fälle untersucht. Ein zentrales Forschungsprojekt wurde 2019 in Auftrag gegeben. Mit ersten Ergebnissen wird im Herbst gerechnet.
Zollitsch reiht sich damit ein in den Reigen ehemaliger Bischofsgrößen, die durch ihren mangelhaften Umgang mit Missbrauchsfällen in der Kritik stehen. Erst im März kam ein Gutachten für das Bistum Mainz zu dem Schluss, der 2018 verstorbene, ehemalige Mainzer Bischof, Kardinal Karl Lehmann - Zollitsch Amtsvorgänger als Bischofskonferenzvorsitzender - habe sich vor allem um das Ansehen der Institution gesorgt und sei den Betroffenen sexualisierter Gewalt abweisend begegnet.
Im Januar 2022 attestierten juristische Gutachter dem mittlerweile verstorbenen, emeritierten Papst Benedikt XVI. Fehler im Umgang mit Missbrauchstätern in seiner Funktion als Münchner Erzbischof zwischen 1977 und 1982. Er soll unter anderem einen durch Missbrauch auffällig gewordenen Priester weiter in der Seelsorge eingesetzt haben, wo er wiederholt Kinder missbrauchte.
Verstörendes Verhalten
Zollitschs Agieren sei "in dieser Dimension der Verweigerung verstörend und ein weiteres Beispiel dafür, dass Kirche sich nicht alleine aufarbeiten kann", sagt die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus. Ähnlich sieht das der religionspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Lars Castellucci, der seit Jahren mehr staatliche Verantwortung bei der Aufarbeitung des Missbrauchs fordert. Das Freiburger Gutachten und das Verhalten von Erzbischof Zollitsch zeigten erneut, dass der Staat den Institutionen die Aufarbeitung von Missbrauchsstrukturen nicht allein überlassen dürfe.
Castellucci weist darauf hin, dass es beim staatlichen Engagement nicht nur um kirchliche Fälle gehe. "Die meisten Fälle sexualisierter Gewalt passieren im familiären Umfeld, damit soll nicht das Leid relativiert werden, was Kindern und Jugendlichen im Raum der Kirchen passiert ist, sondern es zeigt, dass wir auch in anderen Bereichen genau hinsehen müssen." Er fügt hinzu: "Wir brauchen keine Kultur des Hindeutens, sondern eine Kultur des Hinsehens." Auch den Kirchen sei mittlerweile klar geworden, dass sie nicht Ankläger, Verteidiger und Richter in einem sein könnten, sagt der SPD-Politiker.
Kirche fordern Hilfe vom Staat
Mittlerweile fordern die Kirchen offen Hilfe vom Staat bei der Aufarbeitung. Die Deutsche Bischofskonferenz arbeitet an einem neuen Expertenrat, der die Einhaltung der kirchlichen Regeln zur Aufarbeitung überprüfen soll. In dem Gremium sollen Vorstellungen der Bischofskonferenz zufolge auch staatliche Vertreter sitzen. Die Unabhängige Missbrauchsbeauftragte Claus merkt dazu an, dass die Kirchen, wenn sie Hilfe vom Staat forderten, nicht selbst definieren könnten, wo und wie die Hilfe stattfinden solle.
Castellucci meint, auch wenn es einen politischen Konsens in der Ampel-Koalition gebe, dass der Staat bei der Aufarbeitung insgesamt mehr Verantwortung übernehmen müsse, sei dies dennoch eine Gratwanderung. "Wir können und wollen den Institutionen ihre Pflicht zur Aufarbeitung nicht entziehen, nur wer aufarbeitet, lernt aus Fehlern und kann Missbrauch in der Zukunft vorbeugen. Aber der Staat muss Kriterien definieren, wie Aufarbeitung stattfinden kann."
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung findet sich das Bekenntnis dazu, gesetzliche Regelungen für verbindliche Aufarbeitungsstrukturen zu treffen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte im Januar 2022 nach Bekanntwerden des Münchner Missbrauchsgutachtens über seinen Regierungssprecher ausrichten lassen, es sei Konsens in der Bundesregierung, dass die Aufarbeitung von Fällen strukturellen Kindesmissbrauchs nicht Institutionen allein überlassen werden dürfe.
Gesetz ist in Vorbereitung
Derzeit arbeitet die Unabhängige Beauftragte Claus zusammen mit dem Familienministerium, bei dem ihr Amt angesiedelt ist, an einem neuen Gesetz. Ihr Amt, das 2018 geschaffen wurde, soll auf eine dauerhafte gesetzliche Grundlage gestellt werden. Vorgesehen ist auch eine Berichts-pflicht gegenüber dem Bundestag und die Entfristung der Unabhängigen Aufarbeitungskommission.
Dem Parlamentarier Castellucci schwebt sogar eine Ausweitung der Kompetenzen der Unabhängigen Aufarbeitungskommission vor. Sie soll Kirchen und andere Institutionen in Zukunft zu transparenten Aufarbeitungsprozessen nach vergleichbaren Kriterien verpflichten können. Dafür soll die Kommission nach Castelluccis Vorstellung mit eigenen Zugriffs-, Anhörungs-, und auch Sanktionsrechten ausgestattet werden.
Die Kommission soll nicht wie bisher beim Amt der Missbrauchsbeauftragten, sondern beim Bundestag angebunden werden. Eine solche Kommission soll nach den Plänen Castelluccis etwa eine bereichsübergreifende Dunkelfeldstudie in Auftrag geben können, mit der Fallzahlen und systemische Faktoren untersucht werden, und Kriterien für die Entschädigung von Missbrauchsbetroffenen festlegen.
Weitgehende Durchgriffsrechte für den Staat unrealistisch
Nach Einschätzung der Missbrauchsbeauftragten Claus ist eine staatliche Kommission auf Bundesebene mit weitgehenden Durchgriffsrechten jedoch juristisch kaum machbar. Dem Bund fehle dazu auch nach Ansicht von Staatsrechtlern die Regelungskompetenz. Die Idee einer neuen staatlichen Kommission stehe zudem im Widerspruch zu bestehenden Strukturen, sagt Claus. Die Unabhängige Aufarbeitungskommission bei ihrem Amt sei seit 2016 die Stelle, die Betroffene anhöre und ihre Anliegen gesellschaftlich sichtbar mache, unabhängig vom jeweiligen Tatkontext.
Außerdem würde eine staatliche Kommission den Fokus auf die Institution legen und gerade nicht individuelle Aufarbeitung für Betroffene ermöglichen, befürchtet Claus. "Aber genau dieses Recht auf Aufarbeitung braucht es für Betroffene, etwa das Recht auf Akteneinsicht oder auch auf Anhörung und damit Sichtbarkeit."
Seit 2010 sei bereits viel geschehen, stellt Castellucci fest. Doch bleibe noch viel zu tun. Die Kirchen hätten noch immer die Chance, als Institutionen, die besonders im Fokus stünden, einen beispielgebenden Prozess zu gestalten, der dann auch Sportverbände oder Bildungsinstitutionen in Zugzwang bringe - auch mit Hilfe des Staates.
Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagte kürzlich in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", die katholische Kirche habe damals stark auf innerkirchliche Richtlinien gepocht. Sie könne leider nicht mit Zahlen belegen, wie viele Fälle durch die zögerliche Kooperation mit den Staatsanwaltschaften verjährt seien. Dieser Gedanke belaste sie bis heute als Juristin, die auf den Rechtsstaat setze.
Die Autorin ist Politikredakteurin beim Evangelischen Pressedienst (epd) in Frankfurt am Main.