Folge des Verfassungsgerichts-Urteils : "Recht auf selbstbestimmtes Sterben"
Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2020 gesetzliche Einschränkungen bei der Suizidhilfe erschwert, aber nicht verboten.
Derzeit können Suizidhilfe-Vereine in Deutschland wieder legal arbeiten. Das ist die Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts aus dem Februar 2020. Es gibt bisher aber keinen Anspruch auf Zugang zu Suizidmedikamenten. Schon seit dem 19. Jahrhundert war die Beihilfe zur Selbsttötung in Deutschland legal - weil auch der Suizid legal ist. Wer also einer lebensmüden Person Gift verschafft, macht sich nicht strafbar, weil es auch nicht strafbar ist, sich selbst zu vergiften.
Diese liberale Rechtslage geriet jedoch ins Zwielicht, als in Deutschland ab 2005 sogenannte Sterbehilfe-Vereine ihre Arbeit aufnahmen: "Dignitas Deutschland" als Ableger einer Schweizer Organisation sowie der Verein "Sterbehilfe Deutschland" um den ehemaligen Hamburger CDU-Justizsenator Roger Kusch. Diese Vereine boten zwar keine strafbare aktive Sterbehilfe an, sondern nur erlaubte Suizidhilfe, doch der Verdacht, dass es hier auch um kommerzielle Interessen gehen könnte, führte schnell zu Verbotsforderungen. Kritiker wollten vor allem verhindern, dass labile Personen erst zum Suizid verführt werden und die Suizidhilfe durch die rührigen Vereine zu einer normalen Dienstleistung wird.
Klage gegen neu geschaffenen Paragraf 217
Nach jahrelanger Debatte hatte der Bundestag dann im November 2015 das Strafgesetzbuch verschärft. Wer "geschäftsmäßig" Selbsttötungen fördert, machte sich seitdem strafbar, so der neu geschaffene Paragraf 217. Es drohten Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren. Als "geschäftsmäßig" galt eine Hilfe zur Selbsttötung schon, wenn sie auf Wiederholung angelegt war. Auf kommerzielle Interessen kam es dabei nicht an.
Der Strafparagraf musste nie angewandt werden, weil sich die beiden Vereine an das Verbot hielten. Allerdings klagten sie sofort beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz. Mit ihnen klagten auch Ärzte, Anwälte und Kranke.
Verfassungsgericht fällt überraschendes Urteil
Im Februar 2020 erklärten die Richter Paragraf 217 für unverhältnismäßig und damit für verfassungswidrig. Dabei postulierten die Richter zum ersten Mal ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben", das sie aus der Menschenwürde und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ableiteten. Demnach haben, so die Richter, nicht nur Todkranke ein "Recht auf selbstbestimmtes Sterben", das Recht stehe dem Menschen vielmehr "in jeder Phase seiner Existenz" zu. Jeder könne entscheiden, seinem Leben ein Ende zu setzen - "entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit".
Das "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" umfasst nach der Karlsruher Konzeption auch das Recht, sich dabei von anderen helfen zu lassen. Es sei ein "schwerer Eingriff" in die Grundrechte von Sterbewilligen, wenn ihnen durch strafrechtliche Verbote wie Paragraf 217 die "Möglichkeit einer schmerzfreien und sicheren Selbsttötung" genommen werde.
Die Richter betonten, dass der Bundestag das "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" durchaus durch Gesetz einschränken durfte. Ein solches Gesetz müsse aber einen legitimen Zweck verfolgen und vor allem müsse es verhältnismäßig sein.
Richter: Angebote der Palliativmedizin kein ausreichender Ersatz
Den legitimen Zweck von Paragraf 217 sahen die Richter gegeben. Die völlige Freigabe der Suizidhilfe führe zu Gefahren für die Autonomie am Lebensende und das Recht auf Leben. Alte Menschen könnten sich entgegen ihrer eigentlichen Wünsche für einen Suizid entscheiden, um anderen nicht zur Last zu fallen. Auch seien Überversorgung in der Medizin und Versorgungslücken in der Pflege geeignet, Suizidwünsche auszulösen. Zudem prüften die Suizidhilfe-Vereine zu wenig, ob ein Sterbewunsch wirklich frei-verantwortlich ist oder durch psychische Krankheiten ausgelöst wurde.
Paragraf 217 sei jedoch unverhältnismäßig, so das Gericht, weil die Belastung des einzelnen Sterbewilligen nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu den Vorteilen für die Allgemeinheit stehe. Zwar beschränke sich das Verbot der Suizidhilfe auf "geschäftsmäßige" Angebote. Alternativen hierzu bestünden aber nur theoretisch. Ärzte seien derzeit "nur in Ausnahmefällen" bereit, Suizidhilfe zu leisten. Die Berufsordnungen der Ärzte verbieten die Suizidhilfe sogar in weiten Teilen Deutschlands.
Auch Angebote der Palliativmedizin hielten die Richter für keinen ausreichenden Ersatz. Sie seien zwar geeignet, die Zahl der sterbewilligen Todkranken zu verringern. Es bestehe aber keine Pflicht, solche Angebote anzunehmen, so das Karlsruher Gericht.
Eine verfassungskonforme Neuregelung der Suizidhilfe ist aber durchaus möglich, heißt es in dem Urteil. So könnte der Bundestag eine Genehmigungspflicht für Sterbehilfevereine einführen, um ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Der Gesetzgeber könne auch Aufklärungspflichten und Wartefristen zwischen Beratung und Suizidhilfe vorschreiben.
Natrium-Pentobarbital: Umstrittenes Suizidmedikament
Parallel zum Streit um Paragraf 217 kam es zu einem vielschichtigen Konflikt um das Medikament Natrium-Pentobarbital, das in der Schweiz als Suizidmedikament verschrieben werden kann, in Deutschland jedoch als Betäubungsmittel verboten ist. Alle Versuche, beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn eine Ausnahmegenehmigung zum Erwerb als Suizidmedikament zu erhalten, scheiterten bisher.
Dabei hatte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig 2017 entschieden, dass es in "extremen Notlagen" Ausnahmen von diesem Verbot geben müsse. Schwer- und unheilbar Kranke müssten Zugang zu Natrium-Pentobarbital bekommen. Das Betäubungsmittelgesetz müsse verfassungskonform ausgelegt werden.
Gesundheitsminister Gröhe und Spahn gegen Ausnahmegenehmigungen
Die Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und nachfolgend Jens Spahn (beide CDU) hielten das Leipziger Urteil jedoch für falsch und wiesen das BfArM an, weiterhin keine Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Viele Anträge von Schwerkranken wurden seitdem abgelehnt. Das Verwaltungsgericht Köln fragte deshalb 2019 beim Bundesverfassungsgericht an, ob das generelle Verbot von Natrium-Pentobarbital nicht verfassungswidrig ist. Karlsruhe wies die Richtervorlage im Mai 2020 jedoch mit Blick auf das zwischenzeitlich verkündete Urteil zum "Recht auf selbstbestimmtes Sterben" als unzulässig zurück.
Daraufhin lehnte das Verwaltungsgericht Köln im November 2020 alle Klagen der Schwerkranken auf Natrium-Pentobarbital ab. Inzwischen hätten nämlich die Suizidhilfeorganisationen ihre Arbeit wieder aufgenommen und könnten helfen. Anders liegt der Fall eines relativ gesunden Ehepaars, das sich bereits 2013 entschlossen hat, aus dem Leben zu scheiden. Sie wollten handeln, solange es ihnen noch gut gehe. Sie sähen keinen Sinn darin, den eigenen Verfall mitzuerleben. Natürlich lehnte das BfArM hier erst recht den Zugang zu Natrium-Pentobarbital ab.
Am Ende erhob das Ehepaar Verfassungsbeschwerde und berief sich auf das neue "Recht auf selbstbestimmtes Sterben", das eben nicht nur für Todkranke gelte. Anfang 2021 hat das Bundesverfassungsgericht aber auch die Beschwerde des Ehepaars als unzulässig abgelehnt. Die alten Leute könnten sich jetzt selbst eine suizidhilfebereite Person suchen. Sie bräuchten nach dem Urteil zu Paragraf 217 nicht mehr die Hilfe des Gerichts.