Zukunft der Vorratsdatenspeicherung : Von der Ausnahme zur Regel?
Strenge EU-Vorgaben verhindern bislang eine anlasslose Datensammlung. Doch das jüngste Urteil zeigt Möglichkeiten auf.
Wohl kaum ein kriminalpolitisches Projekt hat in Deutschland so lang so viele Konflikte verursacht wie die Vorratsdatenspeicherung. Immer wieder wurde sie durch Gerichte gestoppt. Doch auch der Europäische Gerichtshof ist nicht mehr so streng wie früher und erlaubt Ausnahmen. Über deren Umsetzung debattiert nun die Politik. Als Vorratsdatenspeicherung bezeichnet man die anlasslose Speicherung aller Telefon- und Internetverbindungsdaten der gesamten Bevölkerung. Telefonfirmen müssen dabei festhalten, wer wann wen angerufen oder angeschrieben hat.
Unterschiedliche Vorstellungen: Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof zur Vorratsdatenspeicherung müssen sich Innenministerin Faeser (SPD) und Justizminister Buschmann (FDP) nun auf eine Neuregelung einigen.
Internetprovider müssen speichern, wer sich wann mit welcher IP-Adresse ins Internet eingeloggt hat. Bei Mobiltelefonen wird auch der Standort der Nutzerinnen und Nutzer registriert. Die Inhalte von Telefonaten, Nachrichten oder besuchten Webseiten werden zwar nicht erfasst - dennoch entsteht so ein riesiger Datenfundus, auf den die Polizei bei Bedarf zugreifen kann.
Erstmals wurde die Vorratsdatenspeicherung 2007 in Deutschland eingeführt. Die große Koalition setzte unter der damaligen Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) damit eine EU-Richtlinie um. Anlass war damals nicht - wie aktuell - der Kampf gegen Kinderpornographie, sondern gegen den islamistischen Terrorismus.
Massenklage mit Erfolg
Die Daten wurden in Deutschland dann aber nur von 2008 bis 2010 gespeichert. Denn schon 2010 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz für nichtig. Geklagt hatten zum einen rund 30.000 Bürgerinnen und Bürger in der bis dato größten Massenklage in Karlsruhe. Eine zweite Klage stammte von FDP-Politikerinnen und Politikern um Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Der Kampf der Liberalen gegen die Vorratsdatenspeicherung hat eine lange Tradition. Leutheusser-Schnarrenberger sorgte als Justizministerin auch dafür, dass der Gesetzgeber in den nächsten Jahren keinen neuen Anlauf unternahm.
Gesetz nie angewendet
Das heute geltende Gesetz wurde erst 2015 von der nächsten großen Koalition beschlossen. Justizminister war damals Heiko Maas (SPD). Der seinerzeitige Kompromiss: Statt sechs Monaten sollen die Verbindungsdaten und IP-Adressen nur noch zehn Wochen gespeichert werden, die Standortdaten der Mobiltelefone nur noch vier Wochen. Email-Verbindungsdaten sollten gar nicht mehr gespeichert werden.
Doch 2017 - kurz vor Beginn der Speicherpflicht - setzte das Oberverwaltungsgericht Münster das Gesetz im Fall des Münchener Providers SpaceNet AG aus, weil es vermutlich gegen EU-Recht verstoße. Die Bundesnetzagentur verzichtete deshalb seit Jahren auf die Durchsetzung. Das aktuelle Gesetz wurde bisher also keinen einzigen Tag angewendet.
Rechtliche Probleme machte dabei weniger das Bundesverfassungsgericht. In Karlsruhe wird die Vorratsdatenspeicherung grundsätzlich akzeptiert, wenn bestimmte Anforderungen berücksichtigt sind, insbesondere zur Sicherung der Daten.
Europäischer Gerichtshof ruderte zurück
Fundamentaler gerichtlicher Widerstand kam vielmehr vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg, der anfangs jede Form anlassloser Speicherung für unverhältnismäßig hielt. 2014 beseitigte der EuGH deshalb die EU-Richtlinie. 2016 beanstandete er zudem nationale Regelungen in Schweden und Großbritannien. Wegen der wütenden Reaktionen der EU-Staaten ruderte der EuGH jedoch im Jahr 2020 deutlich zurück. Er lässt jetzt zum Beispiel die anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen zu und erfüllt damit die Hauptforderung der Sicherheitsbehörden. Doch es war klar, dass das deutsche Gesetz selbst mit diesen abgeschwächten Vorgaben nicht zu vereinbaren ist, weil es auch eine anlasslose Speicherung aller Telefon-Verbindungs- und Standortdaten vorsieht.
Das Bundesverwaltungsgericht hat das deutsche Gesetz 2019 dennoch dem EuGH zur Prüfung vorgelegt. Die Leipziger Richterinnen und Richter hofften, dass der EuGH seine strengen Vorgaben weiter aufweicht und das deutsche Gesetz wegen der relativ kurzen Speicherfristen doch als EU-konform einstuft.
Diese Hoffnung hat sich aber nicht realisiert. Der EuGH entschied am 20. September, dass die neue deutsche Variante der Vorratsdatenspeicherung ebenfalls unverhältnismäßig ist und gegen die ePrivacy-Richtlinie der EU verstößt.
Gefahr für die Meinungsfreiheit?
Auch binnen zehn, beziehungsweise vier Wochen könne mit Hilfe der Verbindungs- und Standortdaten ein "detailliertes Profil" der Nutzerinnen und Nutzer erstellt werden, inklusive Gewohnheiten des täglichen Lebens, ausgeübte Tätigkeiten, Aufenthaltsorte und soziale Beziehungen. Schon die Möglichkeit zur Profilbildung könne von der Ausübung der Meinungsfreiheit abhalten, argumentierte der EuGH. Außerdem bestehe die Gefahr eines illegalen Zugriffs auf die Daten durch Hackerinnen und Hacker. Wie in seinen Urteilen seit 2020 üblich, verbietet der EuGH anlasslose Vorratsdatenspeicherungen nicht mehr generell. Er lässt sie vielmehr in vier Konstellationen zu. So erlaubt er erstens die flächendeckende anlasslose Vorratsdatenspeicherungen, wenn die nationale Sicherheit bedroht ist. Gemeint ist, dass es konkrete Hinweise auf Terroranschläge gibt. Hinweise auf unpolitische Kriminalität, die den Staat nicht gefährdet, genügen nicht. Die zweite Ausnahme ist eine "gezielte" Vorratsdatenspeicherung gegen bestimmte Personengruppen. Dies könnten zum Beispiel terroristische Gefährder sein oder entlassene Sexualstraftäter mit erhöhter Rückfallgefahr.
Die dritte Ausnahme ist eine "gezielte" Vorratsdatenspeicherung anhand geographischer Kriterien. Damit sind zum Beispiel Orte gemeint, die von der Polizei als Kriminalitätsschwerpunkte eingestuft werden, etwa weil dort mit Drogen gehandelt wird. Auch an Bahnhöfen, Flughäfen oder Mautstellen dürften vorsorglich alle Verbindungs- und Standortdaten gespeichert werden, so der EuGH.
IP-Adressen sind häufig der einzige Ermittlungsansatz
Die vierte Ausnahme ist die wichtigste: Bei IP-Adressen darf eine Vorratsdatenspeicherung für die gesamte Bevölkerung eingeführt werden, weil bei vielen Straftaten im Internet die IP-Adresse der einzige Ermittlungsansatz ist. Internet-Provider könnten also verpflichtet werden, zu speichern, wann sie welchen Kundinnen und Kunden welche IP-Adresse zum Surfen im Netz zugewiesen haben. Die Polizei könnte so herausfinden, welche Person hinter einer IP-Adresse steckt, die zum Beispiel im Zusammenhang mit Missbrauchsdarstellungen festgestellt wurde. Laut Bundeskriminalamt beziehen sich mehr als 90 Prozent aller Polizei-Anfragen an Provider auf IP-Adressen. Die IP-Adressen werden dort derzeit maximal sieben Tage lang, manchmal aber auch gar nicht gespeichert.
Als zulässig wird in der EuGH-Entscheidung auch noch die sogenannte Quick-Freeze-Methode erwähnt. Sie ist jedoch keine klassische Vorratsdatenspeicherung, da die Daten gerade nicht auf Vorrat gespeichert werden, sondern zum Beispiel erst nach einem Mord. Bei "Quick Freeze" können die Daten von Personen "eingefroren", das heißt gespeichert, werden, die in der Nähe des Tatortes waren, ohne dass es bereits einen konkreten Verdacht gibt. Oft sind diese Daten allerdings bereits gelöscht, so dass auch nichts eingefroren werden kann. Die deutsche Politik muss jetzt entscheiden, ob und welche Ausnahmen vom Verbot der Vorratsdatenspeicherung zugelassen werden sollen. Sie ist weder verpflichtet, alle Ausnahmen einzuführen, noch, mindestens eine Ausnahme zuzulassen. Im Fall, dass sich die Ampel-Koalition nicht einigen kann, wird es in Deutschland keinerlei Vorratsdatenspeicherung geben - wie schon derzeit.
Faeser gegen Buschmann
In der Gesetzgebung federführend ist in der Bundesregierung Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Er hat bereits angekündigt, dass er die Vorratsdatenspeicherung sehr schnell streichen und einen Referentenentwurf für die Einführung des "Quick-Freeze"-Verfahrens in der Strafprozessordnung vorlegen will. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will jedoch den vom EuGH gewährten Spielraum nutzen und zumindest eine Vorratsdatenspeicherung der IP-Adressen einführen. Sie wird dabei von den Sicherheitsbehörden und den Innenministerinnen und Innenminister der Länder unterstützt.
Union fordert, Spielräume aus EuGH-Urteil zu nutzen. In der Ampelregierung können sich die Minister Buschmann und Faeser nicht auf eine gemeinsame Linie einigen.
Darum geht es in der aktuellen Debatte - und das will die Bundesregierung umsetzen.
Als Maßstab für die Bewertung ist auch der Koalitionsvertrag der Ampel relevant, wobei dieser strenger ist als das EuGH-Urteil. Laut Koalitionsvertrag soll nur die "anlassbezogene" Speicherung von Daten möglich sein. Eine anlasslose Speicherung ist mit dem Wortlaut des Koalitionsvertrags nicht vereinbar.