Blick hinter die Propaganda-Fassade : Als westdeutscher Journalist in der DDR
Vor 50 Jahren wurden die ersten West-Korrespondenten in Ost-Berlin akkreditiert. Für die Friedliche Revolution in der DDR spielten sie eine wichtige Rolle.
Der 10. Januar 1974, ein Donnerstag, war für mich ein besonderes Datum. An diesem Tag vor 50 Jahren reiste ich von München, meinem damaligen Wohnort, nach Ost-Berlin. Im DDR-Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten wurde ich erwartet. Ein Mitarbeiter der Presseabteilung überreichte mir meinen mit einem Lichtbild versehenen Ausweis als akkreditierter Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" (SZ). In dem Dokument war auch meine neue Wohnadresse im Ost-Berliner Bezirk Lichtenberg verzeichnet: Weißenseer Weg 2. Das Visum zur "mehrmaligen" Ein- und Ausreise sowie die Aufenthaltsgenehmigung "für das gesamte Gebiet der DDR" wurden in meinen bundesdeutschen Pass gestempelt.
Fast ein Jahr lang hatte ich auf diesen Tag gewartet. 1972 hatte sich die DDR in Folge des Grundlagenvertrages mit Bonn verpflichtet, bundesdeutsche Journalisten als ständige Korrespondenten ins Land zu lassen. Die Zusage hatte ich seit Frühjahr 1973. Aber bis ich am 1. März 1974, knapp vier Monate vor Eröffnung der Ständigen Bonner Vertretung, offiziell meine Arbeit beginnen konnte, verging noch ein Jahr. Nun konnte ich endlich tun, was ich angestrebt und wozu mich meine Redaktion nach Ost-Berlin geschickt hatte: das Leben der Menschen im sozialistischen deutschen Staat beschreiben. Ihren Alltag in Beruf und Freizeit. Ihre Sorgen und ihre Freuden. Und wie sich eingerichtet hatten in der SED-Diktatur.
Von München in den Plattenbau nach Ost-Berlin - inklusive Familie
Ich war nicht der erste westdeutsche Journalist, den die DDR akkreditierte. Ein paar Kollegen hatten vor mir ihren Ausweis bekommen. Da für ständige Korrespondenten Residenzpflicht herrschte, hatten auch sie in der DDR-Hauptstadt eine Wohn- und Büroadresse. Ihren Hauptwohnsitz behielten sie jedoch in West-Berlin und damit auch ihren privaten Lebensmittelpunkt. Ich dagegen war der erste, der freiwillig seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik aufgab und mit komplettem Hausstand nach Ost-Berlin verlegte. Mit Ehefrau und zwei kleinen Kindern.
In unserer Vier-Zimmer-Wohnung in einem frisch errichteten Plattenbau hatte ich mir einen kleinen Arbeitsraum eingerichtet. Ein separates Büro im Zentrum Ost-Berlins bekam ich erst etliche Monate später. Auch ein Telefon fehlte in der Anfangsphase. Es hätte auch nicht viel genutzt, denn ein Gespräch nach München hätte über das Fernamt mit nicht kalkulierbarer Dauer angemeldet werden müssen. Mir blieb nur die Möglichkeit, nach West-Berlin zu fahren, ins SZ-Redaktionsbüro oder zu einem Postamt gleich hinter dem Grenzübergang. Von dort aus sprach ich meine auf der Schreibmaschine getippten Artikel der Nachrichtenaufnahme der Zeitung aufs Band. Eine Sekretärin schrieb den Text dann ab. Ein umständliches und zeitraubendes Verfahren, das sich heute kaum noch jemand vorstellen kann.
In der SED war der Entschluss, West-Medien auf Dauer Informationsmöglichkeiten vor Ort einzuräumen, von Anfang an umstritten. Neben Befürwortern, die sich von einer unmittelbaren und kontinuierlichen Berichterstattung ein besseres DDR-Image im Westen erhofften, gab es viele Kritiker, die den West-Journalisten die Bereitschaft zu sachlicher und fairer Information absprachen. Vor allem die Spitzen der Staatssicherheit hielten die Vertreter der West-Medien grundsätzlich für "Agenten des Klassenfeindes", die den realen Sozialismus verleumden, die Gesellschaft unterwandern und die Bevölkerung aufwiegeln wollten.
Viele Druckmittel, um freie Berichterstattung zu behindern
In ihrer Furcht vor einer freien Berichterstattung legte die DDR-Führung den West-Korrespondenten eine Reihe bürokratischer Fesseln an. Reisen außerhalb Ost-Berlins in die DDR waren beim Außenministerium 24 Stunden vor Antritt unter Angabe des Reiseziels und Reisegrunds anzumelden. Überdies unterlagen alle journalistischen Vorhaben einer Genehmigungspflicht. Danach musste jeder Besuch in einer staatlichen Einrichtung, einem volkseigenen Betrieb oder einer Genossenschaft schriftlich beim Außenministerium beantragt werden. Das galt auch für Interviews. Über Genehmigung oder Ablehnung entschied die Abteilung Agitation im SED-Zentralkomitee, einem Hort ideologischer Betonköpfe.
Der DDR-Presseausweis von Peter Pragal, ausgestellt am 10. Januar 1974.
Als besonders problematisch erwies sich die Auflage, "Verleumdungen oder Diffamierungen der DDR, ihrer staatlichen Organe und ihrer führenden Persönlichkeiten" zu unterlassen. Denn wie sich in der Praxis erwies, ließ sich diese Klausel fast auf jeden kritischen Bericht der lästigen Beobachter aus dem Westen anwenden. Um sie zu disziplinieren, standen den Machthabern Repressionen zur Verfügung. Sie reichten von der Verwarnung über die Einbestellung ins Außenministerium bis zur Ausweisung und der Schließung des Büros.
Die Sanktionen standen nicht nur auf dem Papier. Vier meiner Kollegen wurden des Landes verwiesen und mussten die DDR binnen 48 Stunden verlassen, darunter 1976 der ARD-Korrespondent Lothar Loewe. Dem hatte die SED-Führung verübelt, dass er in einem Kommentar gesagt hatte: "Hier in der DDR weiß jedes Kind, dass die Grenztruppen den strikten Befehl hatten, auf Menschen wie auf Hasen zu schießen." Ich selbst kam mit meinen Berichten und Kommentaren glimpflicher davon. Ich wurde lediglich ins Ministerium zitiert und unter Androhung von Konsequenzen ernsthaft verwarnt.
Mehrheit der Bürger aufgeschlossen gegenüber Journalisten aus dem Westen
Doch alle diese Druckmittel und eine totale Überwachung durch die Staatssicherheit zeigten nicht die von den kommunistischen Machthabern gewünschte Wirkung. Meine Kollegen und ich waren in der DDR-Gesellschaft nicht isoliert. Das Gros der Bürger zeigte sich uns gegenüber aufgeschlossen. Manche scheuten sich nicht, ihrem Ärger über Unzulänglichkeiten im SED-Staat freimütig Luft zu machen. Durch meinen wachsenden Freundes- und Bekanntenkreis bekam ich Einblick in Bereiche wie etwa das staatliche Gesundheitswesen oder das Innenleben der Volksbildung, aus denen man uns offiziell fernhalten wollte.
So gelang es uns Korrespondenten mehr und mehr, hinter die von den staatlichen Medien errichtete Propaganda-Fassade zu schauen und die Kluft zwischen politischem Anspruch und sozialer Realität bloßzustellen. Dazu gehörte, den Arbeiter- und Bauernstaat nicht nur mit westlichen Augen zu betrachten. Notwendig war auch, sich in die Lage von Menschen zu versetzen, die in einer Diktatur leben und im Alltag Kompromisse machen mussten. Ich empfand es geradezu als Kompliment, als ich Jahre später in meiner umfangreichen Stasi-Akte den Satz fand: "Pragal versuchte, wie ein DDR-Bürger zu leben und zu denken."
Berichte schafften eine Art Gegenöffentlichkeit für DDR-Bürger
Von den Vertretern der Westmedien waren die Hörfunk- und Fernsehkorrespondenten den SED-Regenten besonders missliebig. Zwar konnte der Staat verhindern, dass politisch anstößige Druckschriften ins Land kamen, aber für Radio und Fernsehen war der Äther offen. Und nicht nur das. Normalerweise berichteten Auslands-Korrespondenten von TV und Hörfunk aus einem anderen Staat für die Zuschauer und Hörer im Heimatland. Im geteilten Deutschland waren aber nicht nur die Bundesbürger die Adressaten, sondern auch die Bewohner der DDR. Und das ohne jegliche Sprachprobleme.
Was bundesdeutsche Journalisten zwischen Elbe und Neiße erfuhren und nach Westen berichteten, kam nach dem Motto "aus der DDR in die DDR" über Fernsehen und Hörfunk in den größten Teil des SED-Staates zurück und wirkte auf das Bewusstsein seiner Bürger. Die West-Medien wurden zur Gegenöffentlichkeit und unterliefen das Informations- und Meinungsmonopol der SED. Damit, so sagte einmal der Spitzenfunktionär Günter Schabowski, waren sie "ein ständiger Stachel im Fleisch der DDR".
Interviews mit Spitzenfunktionären wurden in der Regel abgelehnt
Durch die West-Korrespondenten "erfuhren wir, was wir nicht erfahren sollten", beschrieb Marianne Birthler, einst Bürgerrechtlerin und später Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde, einmal die Situation. Wir, die West-Journalisten, machten Tätigkeit und Forderungen der sich formierenden Oppositionsgruppen landesweit publik und gaben den unterdrückten Regimekritikern Gesicht und Stimme. Die TV-Bilder von Demonstrationen nahmen DDR-Bürgen die Angst und ermunterten zum Mitmachen. Wir berichteten auch über die Motive der Menschen, die sich in die Ständige Bonner Vertretung in Ost-Berlin flüchteten, um ihre Ausreise zu erzwingen. Und als der Arzt Karl-Heinz Nitschke aus Riesa mir ein Schriftstück mit 33 Namen und Adressen von Bürgern übergab, die auf seine Initiative "die volle Erlangung der Menschenrechte" forderten, brachte ich diese Petition nach West-Berlin. Von dort aus fand sie ihren Weg in die Öffentlichkeit.
Anfragen nach Interviews mit Spitzenfunktionären wurden in der Regel abgelehnt. Als ich 1987 wissen wollte, wie die DDR zur Reformpolitik von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion steht, hatte ich geringe Erwartungen. Umso überraschter war ich, als ich hörte, Politbüro-Mitglied Kurt Hager wolle meine Fragen dazu beantworten. Ich möge diese schriftlich einreichen.
Wie Politbüro-Mitglied Kurt Hager zu "Tapeten-Kutte" wurde
Für den 20. März 1987 wurde ich ins Außenamt bestellt, wo man mir und einem aus Hamburg angereisten Kollegen die schriftlichen Antworten übergab. Danach führte man uns ins benachbarte ZK-Gebäude zu Hager, mit dem wir noch ein wenig plaudern durften. Vom Interview war nicht mehr die Rede. Es war eigentlich nur ein Fototermin. Hagers Antworten bestanden zum größten Teil aus Propaganda-Phrasen. Aber es gab einen Satz, der mich elektrisierte. "Würden Sie, wenn ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, ebenfalls neu zu tapezieren?" Das war eine kaum verhüllte Absage an die neue Politik des "großen Bruders" in Moskau. So wurde der Satz auch weit über die Grenzen der DDR hinaus verstanden. Und Hager, ein gebürtiger Schwabe, hatte fortan den berlinisch klingenden Spitznamen "Tapeten-Kutte".
Hagers bornierte Haltung, die er mit anderen Politbürokraten teilte, war eine politische Bankrotterklärung. Seit seiner Gründung lebte der SED-Staat vom Wohlwollen und vom Schutz der Sowjetunion. Ohne den Rückhalt aus Moskau war die DDR nicht lebensfähig. Trotzdem hielten Erich Honecker und seine Führungsgenossen in maßloser Überschätzung ihrer Möglichkeiten an ihrem dogmatischen Kurs fest, der den Staat immer tiefer in die Krise führte.
Nach der Entmachtung Honeckers und seiner engsten Kumpane versuchte die neue, von Egon Krenz angeführte SED-Spitze von der Macht zu retten was zu retten war. Sie war bereit, den Bürgern Reisefreiheit zu gewähren, und wollte sich dies von der Bundesregierung teuer bezahlen lassen. Damit, so hofften Honeckers Erben, könnten sie nicht nur die aufgebrachten Bürger beruhigen, sondern auch den drohenden Staatsbankrott abwenden. Aber auch diese Rechnung ging nicht auf. Günter Schabowski hatte sie verschusselt. Als der am 9. November 1989 bei einer Pressekonferenz Einzelheiten des neuen Reisegesetzes bekannt gab, ohne seine Unterlagen hinreichend gelesen zu haben, unterlief ihm ein schwerwiegender Fehler. Gefragt, wann die neue Regelung in Kraft trete, antwortete er nach kurzer Pause: "sofort, unverzüglich".
Ein Fehler mit ungeahnten Folgen
Diese Aussage hatte für das SED-Regine ungeahnte Folgen. Angelockt durch Meldungen westlicher Medien, strömten immer mehr DDR-Bürger zu den Grenzkontrollstellen. Als der Druck immer größer wurde und Harald Jäger, der amtierende Leiter der Passkontrolleinheit an der Bornholmer Brücke, keine Chance mehr sah, einen gewaltsamen Durchbruch aufzuhalten, gab er den Befehl: "Macht den Schlagbaum auf." Noch am selben Abend hoben sich auch an den übrigen Berliner Grenzübergängen die Schranken. Damit hatte die DDR-Führung die Kontrolle über die Grenze verloren - und bald darauf auch die Macht über die ganze Republik.
Auch wenn ihnen zum guten Schluss Schabowskis Lapsus half, hatten den größten Anteil am Zusammenbruch der SED-Herrschaft die mutigen DDR-Bürger, die Widerstand gegen die Diktatur leisteten, die sich nicht einschüchtern ließen, die auf die Straßen gingen, um Freiheitsrechte einzufordern. Aber auch diese Feststellung ist richtig: Die akkreditierten Korrespondenten aus der Bundesrepublik, insbesondere die der elektronischen Medien, haben mit ihrer Berichterstattung dabei kräftig geholfen.
Der Autor war von 1974 bis 1979 Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" und von 1984 bis 1991 "Stern"-Korrespondent in Ost-Berlin.
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