Geschichte unserer Demokratie : Ein Fanal der Freiheit
Die Paulskirchenverfassung scheiterte. Doch sie beeinflusste sowohl die Weimarer Verfassung als auch das Grundgesetz.
Die Frankfurter Paulskirche, in der 1848/49 die Nationalversammlung zusammenkam, um die Verfassung auszuarbeiten.
Die Frankfurter Paulskirche 1848/49, das Weimarer Nationaltheater 1919 und die weit weniger prominente Pädagogische Akademie Bonn 1948/49: Drei Orte, drei Daten, drei entscheidende Wegmarken der an modernen, vorwärtsweisenden Elementen reichen deutschen Verfassungsgeschichte. Während die Nationalversammlungen 1848 und 1919 mit dem klaren Auftrag - in Weimar zum ersten Mal auch von Frauen - gewählt wurden, eine Verfassung auszuarbeiten und zu verabschieden, setzte sich der Parlamentarische Rat in Bonn aus Vertretern der Landtage und der Bürgerschaften Hamburgs und Bremens zusammen; die Berliner Gesandten genossen in dem von den Alliierten besetzten Land nur Beraterstatus.
Die jeweiligen Umstände der Verfassungsgebung konnten unterschiedlicher kaum sein. Die Paulskirchenverfassung war Frucht der allgemeinen Konstitutionalisierungswelle des 19. Jahrhunderts, genauer gesagt, des Siegeszuges liberaler Programmatik des gebildeten Bürgertums, wie sie sich in den populären "Märzforderungen" artikulierte. Allerdings folgte auf den Höhenflug der Grundrechtserklärung, die noch Ende 1848 verabschiedet und im neugegründeten Reichsgesetzblatt verkündet wurde, das baldige Ende. Auch wenn die Arbeit an der Gesamtverfassung noch im März 1849 zum Abschluss gebracht werden konnte, gewannen namentlich in Österreich und Preußen die reaktionären Kräfte die Oberhand, und die Paulskirchenverfassung trat nie in Kraft.
Am Anfang stand ein revolutionärer Bruch
Freilich darf man ihre ideelle Strahlkraft nicht unterschätzen. Nicht allein, dass sie von einem amerikanischen Beobachter als "the best thing in the world" und "a great improvement upon our own" gerühmt wurde; aufgrund ihrer außerordentlichen Vorbildfunktion nahmen spätere Verfassungsschöpfungen wie etwa die Preußische Verfassung von 1850 etliches von ihr auf.
Das gilt auch für die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919. An ihrem Anfang stand der revolutionäre Bruch mit den scheinbar so festgefügten, doch innerlich morschen Monarchien in Reich und Ländern. So hält Artikel 1 der Verfassung fest: "Das Deutsche Reich ist eine Republik." Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden sei es für immer vorbei, hatte Friedrich Ebert bei seiner Ansprache zur Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar stolz verkündet. Dass diese Abkehr von der Monarchie nicht zu einem sozialistischen Rätesystem, sondern zu einer parlamentarisch-repräsentativen Republik führen würde, stand schon zu Beginn der Beratungen fest.
"Demokratischste Demokratie der Welt"
Doch das war nicht alles. Das Reich wurde gegenüber den Ländern entschieden gestärkt, die demokratischen Rechte des Volkes nicht auf die Parlamentswahlen beschränkt, sondern um sachunmittelbare Entscheidungsmöglichkeiten ergänzt. Außerdem wurde der Reichspräsident direkt vom Volk gewählt. Insgesamt präsentierte sich die Weimarer Verfassung nach zeitgenössischer und im Kern zutreffender Einschätzung als "demokratischste Demokratie der Welt".
Der erste Artikel des Grundgesetzes von 1949 beginnt bekanntlich mit dem Satz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das war die wesentliche Aussage, so wie 1919 die Betonung des republikanischen Charakters des neuen Staatswesens als wichtigste Aussage an den Anfang gestellt wurde. Nach dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, aber auch mit Blick auf den im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands weiter real existierenden Stalinismus bildete der Satz von der Menschenwürde das mächtige Fanal einer freiheitlichen, demokratischen Verfassungsordnung. Auf ihren signifikant an die Spitze gestellten Grundrechtskatalog folgen die staatsorganisatorischen Abschnitte. Die wichtigsten Verfassungsprinzipien (Republik, Demokratie, Bundes-, Rechts- und Sozialstaatlichkeit), die bereits der Weimarer Verfassung geläufig waren, sind nun in neuartiger Weise in Artikel 20 gebündelt.
Zwar ist hier von Wahlen und Abstimmungen die Rede, mittels derer das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, diese ausübt. Aber Volksentscheide als Alternative zur Gesetzgebung durch die Parlamente kennt das Grundgesetz (im Gegensatz zu mittlerweile allen 16 Bundesländern) nicht.
Hingegen hat der Parlamentarische Rat der Sicherung der Verfassung gegen gesetzgeberische oder aus der Gesellschaft kommende Angriffe große Bedeutung beigemessen: einerseits durch die identitätsverbürgende Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, mit der Änderungen der Verfassung, die die Grundsätze der Artikel 1 und 20 berühren, ausgeschlossen sind.
Andererseits mit den Instrumenten der sogenannten streitbaren Demokratie, die insbesondere Verbote von Parteien und Vereinigungen zulässt, deren Aktivitäten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten (vgl. Art. 9 Abs. 2, Art. 21 Abs. 2 GG). Solche Instrumente der Wert- und Wehrhaftigkeit waren der Paulskirche ebenso fremd wie Weimar. Das ist nur eine der Differenzen, denen noch weitere wie insbesondere die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen Staatsorgane (Präsident, Kanzler, Parlament) hinzugefügt werden könnten. Wir stellen die Gegenfrage: Wie viel Paulskirche steckt eigentlich im Grundgesetz?
Weitgehende Abschaffung der Todesstrafe
Die größte Deckungsgleichheit findet sich in den Bereichen Rechtsstaat und Grundrechte. Herrschaft des Gesetzes, richterliche Unabhängigkeit, Bindung der Exekutive und der Judikative an das Gesetz kennt die Verfassung von 1849 ebenso wie das Grundgesetz. Auch die (weitgehende) Abschaffung der Todesstrafe trägt moderne Züge. Deutlich ist zudem die Grundrechtsbindung auch des parlamentarischen Gesetzgebers ausgesprochen, die das Grundgesetz gleichfalls explizit normiert und die in Weimar umstritten war.
Von großer Bedeutung ist sodann, dass das in der Paulskirchenverfassung vorgesehene Reichsgericht schon wegen seiner Konstruktion als spezialisiertes Verfassungsgericht, aber auch wegen seiner großen Kompetenzfülle (einschließlich der Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde) als konzeptionelles Vorbild für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gelten kann, gewissermaßen als kühner Vorgriff. Weimar war insofern zurückhaltender, auch wenn Weite und Wirkung der Judikatur des Staatsgerichtshofes nicht unterschätzt werden sollten.
Den Grundrechten als Abwehrrechten widmete sich die Paulskirche besonders eingehend. Die einschlägigen liberalen Garantien fanden sich ausführlich aufgelistet: Freizügigkeit, Auswanderungsrecht, Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit der Person, Unverletzlichkeit der Wohnung, Briefgeheimnis, Meinungs-, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Wissenschaft, Petitionsrecht, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Eigentumsgarantie.
Nicht wenig wurde wörtlich übernommen
Alle diese Freiheiten enthielt auch die Weimarer Reichsverfassung, und zwar nicht, wie vielfach noch immer kolportiert, als bloße Programmsätze, sondern als aktuell bindendes, unmittelbar geltendes Recht. Nicht wenige dieser Grundrechte sind aus der Paulskirchenverfassung wörtlich in die Weimarer Verfassung und sodann auch in das Grundgesetz übernommen worden.
Freilich verliert die Paulskirche kein Wort zur sozialen Frage. Zwar wurden soziale Grundrechte diskutiert, aber nicht normiert. Hier wird die Dominanz des Besitzbürgertums in der Frankfurter Nationalversammlung deutlich. Dabei lagen die Probleme der Verarmung, Proletarisierung und Kinderarbeit offen zutage; nicht zufällig war 1848 auch das "Kommunistische Manifest" erschienen.
Weimarer Nationalversammlung 1919: Die Verfassung enthielt zahlreiche soziale Grundrechte.
Ganz anders agierte insofern die Weimarer Verfassung, die dem überkommenen Grundrechtskatalog eine Vielzahl von sozialen Grundrechten, Staatszielen und Gesetzgebungsaufträgen als Vorgaben für bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche hinzufügte. Die soziale Frage hatte damit die Verfassungsebene erreicht. Diese Bestimmungen hatten, anders als die liberalen Grundrechte, programmatischen Charakter und waren auf gesetzliche Umsetzung angewiesen. Das reichte von der sozialen Förderung der Familie, dem Schutz der Jugend vor Verwahrlosung oder der Schaffung gesunder Wohnverhältnisse über Regelungen zum Beamtentum, dem Schulwesen und der Lehrerbildung bis hin zur Nutzung von Bodenschätzen, dem Sozialversicherungswesen oder der Bildung von Arbeiter- und Wirtschaftsräten.
Das Grundgesetz wiederum verzichtet auf derartig detaillierte Regelungen und beschränkt sich auf das Verfassungsprinzip der Sozialstaatlichkeit, das aber auf einfachgesetzlicher Ebene machtvoll ausgebaut wurde und weiter ausgebaut wird.
Wille zur Wiederanknüpfung
Das Religionsverfassungsrecht liefert einen weiteren Beleg für die Kontinuität von der Paulskirche bis zum Grundgesetz. In der Paulskirchenverfassung waren die drei - auch historisch in dieser Reihenfolge durchgesetzten - Freiheitsgarantien deutlich formuliert: die individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit (Bekenntnisfreiheit), das Recht zur öffentlichen Ausübung der Religion (Kultusfreiheit) und die von staatlicher Kontrolle oder Zulassung freie Bildung religiöser Vereinigungen (Vereinigungsfreiheit).
In Weimar fanden sich diese Garantien wieder, ergänzt um zahlreiche weitere kompromissartige Bestimmungen. Weite Teile dieses Kompromisses übernahm nun der Parlamentarische Rat, indem er zentrale religionsverfassungsrechtliche Artikel der Weimarer Reichsverfassung aufnahm (vgl. Art. 140 GG). Insgesamt wird der 1949 unübersehbar vorherrschende Wille zur Wiederanknüpfung an die freiheitliche westliche Verfassungstradition deutlich, an deren Ausgestaltung sowohl die Verfassung der Paulskirche als auch die von Weimar maßgeblichen Anteil hatten.
Professor Dr. Horst Dreier ist ehemaliger Lehrstuhlinhaber für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Würzburg.