Deutsche Verfassungsgeschichte : Zu Gast in fremden Häusern
Kirche, Theater, Museum - die Parallelen und Unterschiede zu den Nationalversammlungen von Frankfurt und Weimar.
Die Frankfurter Paulskirche im Jahr 2022: Hier tagte 1848/49 das erste gesamtdeutsche und frei gewählte Parlament.
Eine Kirche, ein Theater, ein Museum - drei öffentliche Gebäude in drei verschiedenen Städten, zu unterschiedlichen Zwecken errichtet, aber allesamt nicht dazu erbaut, um eine verfassungsgebende Versammlung zu beherbergen. Heute stehen die Paulskirche in Frankfurt am Main, das Nationaltheater in Weimar und das Museum Koenig in Bonn für Marksteine deutscher Demokratiegeschichte, in ihrer Unterschiedlichkeit geeint durch ihre zeitweise Zweckentfremdung als Tagungsort zweier Nationalversammlungen und des Parlamentarischen Rates, der zur Verdeutlichung des provisorischen Charakters seiner Aufgabe ebenso wenig "verfassungsgebende Versammlung" heißen durfte wie das von ihm geschaffene Grundgesetz "Verfassung".
Dabei ging es 1948/49 in Bonn ebenso um die Erarbeitung einer Verfassung wie exakt 100 Jahre zuvor in Frankfurt oder 1919 in Weimar. Unterschiedliches im Gemeinsamen findet sich dabei vielerlei. So sollte es nach der März-Revolution von 1848 wie der November-Revolution von 1918 eine Verfassung für die ganze Nation werden, was das Grundgesetz erst 1990 mit dem Beitritt der DDR zu seinem Geltungsbereich wurde. Aber immerhin, es wurde tatsächlich zur Verfassung Deutschlands, wie zuvor das Weimarer Werk und im Gegensatz zur "Verfassung des deutschen Reiches" von 1849, die zwar nach Meinung ihrer Autoren mit der Verkündung in Kraft trat, faktisch aber aufgrund ihrer Ablehnung durch die größten deutschen Staaten nur auf dem Papier bestand.
Zeichen des Neubeginns
Der Gemeinsamkeit wie Unterschiedlichkeit der Aufgabe entsprachen auch die damit beauftragten Versammlungen. Alle drei standen im Zeichen des Neubeginns nach tiefen Einschnitten: der Aufstände von 1848 mit dem Ruf nach Einheit und Freiheit, des Umsturzes von 1918 nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, und 1948 schließlich der sich verfestigenden Teilung Deutschlands nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg.
Den jeweiligen Zeitumständen war auch der mehr oder minder improvisierte Sitzungsort geschuldet. Das galt für Bonn 1948 (siehe Beitrag oben) ähnlich wie 100 Jahre früher in Frankfurt, wo sich damals kein geeigneteres Gebäude als die erst 1833 fertiggestellte evangelisch-lutherische Hauptkirche der Stadt gefunden hatte. Als sie im Winter 1848/49 eine Zentralheizung erhielt, mussten die Abgeordneten gleichwohl für zwei Monate in die Deutschreformierte Kirche am Kornmarkt ausweichen. Beim Zusammentritt der Nationalversammlung von 1919 war das Reichstagsgebäude in Berlin zwar schon ein Vierteljahrhundert genutzt worden, doch wichen die Abgeordneten wegen der politisch instabilen Lage in der Reichshauptstadt im Februar lieber in das ruhigere Weimar aus, um dort im angemieteten Nationaltheater zu tagen und erst im September an die Spree zurückzukehren.
Die Nationalversammlungen von Frankfurt und Weimar setzten sich aus Vertretern aus ganz Deutschland zusammen, der Parlamentarische Rat hingegen nur aus Abgeordneten aus den elf westdeutschen Ländern und ihren nicht stimmberechtigten Berliner Kollegen. Die Nationalversammlung von 1848/49 war das erste (mit Einschränkungen) demokratisch gewählte Parlament Gesamtdeutschlands; wahlberechtigt waren alle selbstständigen Männer im Alter ab 25 Jahren. Schätzungen zufolge hatten etwa 85 Prozent der Männer das aktive und passive Wahlrecht. Frauen waren davon komplett ausgeschlossen, Arbeiter zumindest in einem Teil der Staaten.
Frauen konnten 1919 erstmals wählen
Waren unter den 585 Abgeordneten der Paulskirchenversammlung somit ausschließlich Männer, zählten 70 Jahre danach zu den 421 Mitgliedern des Weimarer Nationalkonvents auch 37 Frauen: Bei ihrer Wahl im Januar 1919 konnten erstmals auch die Frauen ihre Stimme abgeben und sich zur Wahl stellen; das Wahlalter war von 25 auf 20 Jahre gesenkt worden. Die 65 stimmberechtigten Mitglieder des Parlamentarischen Rates dagegen waren gar nicht vom Volk gewählt, sondern von den westdeutschen Landtagen, denen dann auch die Annahme des Grundgesetzes oblag.
Auch in der Dauer ihrer Verfassungsberatungen unterschieden sich die drei Versammlungen. So lagen zwischen dem Zusammentritt der Frankfurter Nationalversammlung am 18. Mai 1848 bis zur Schlussabstimmung über die Verfassung am 28. März 1849 insgesamt 313 Tage, zwischen der Konstituierung des Weimarer Parlaments am 6. Februar 1919 und der Verabschiedung des neuen Verfassungswerks am 31. Juli 1919 hingegen nur 174 Tage. Immerhin 248 Tage betrug demgegenüber die Spanne zwischen der Eröffnung des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 und seiner abschließenden dritten Lesung des Grundgesetzes am 8. Mai 1949.