Kurz rezensiert : Absage an die Cancel Culture
Julian Nida-Rümelin erteilt der Cancel Culture eine Absage. Zugleich zeigt er indirekt ein merkwürdiges Verständnis für Russlands Krieg gegen die Ukraine.
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin diente als zweiter Kulturstaatsminister unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und engagiert sich derzeit als Vize-Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Regelmäßig meldet er sich mit Studien und Essays zu tagesaktuellen Themen zu Wort. In seinem neuen empfehlenswerten Buch mischt er sich in den Streit um die "Cancel Culture" ein und knüpft damit an die Bücher von Caroline Fourest, Adrian Daub und René Pfister an. Er analysiert das Phänomen und arbeitet die Alternativen zu einer Haltung heraus, die alle zum Schweigen bringen wolle, "deren Auffassungen von den eigenen in störender Weise abweichen".
Kritik an Dominanz des Westens
Nida-Rümelin beginnt seine Reise zu den Ursprüngen der Cancel Culture im antiken Griechenland. Es folgen Kapitel über erkenntnis- und demokratietheoretischen Aspekte, außerdem erläutert er die Praxis des "Deplatformings". Ausdrücklich versteht der Philosoph sein Buch als Gesprächsangebot an all jene, die der Aufklärung die Treue halten, "aber auch an diejenigen, die sich davon verabschieden". Gleichwohl betont er, dass "die aktuell größte Gefahr für die Demokratie als Staats- und Lebensform" nicht von einer linken Cancel Culture ausgehe, "sondern - zumindest in den meisten Staaten Europas - von rechtspopulistischen Kräften". Diese würden allerdings durch "politische und kulturelle Fehlentwicklungen gestärkt, zu denen die sich ausbreitende Cancel Culture gehört".
Deutlich kritisiert Nida-Rümelin die Dominanz des Westens, insbesondere seinen Interventionismus und Triumphalismus. Mit seiner Vermutung, die USA würden mit harten, auch militärischen Mitteln, einen hypothetischen Beitritt Kanadas oder Mexikos zu einem russisch geführten Militärbündnis unterbinden, zeigt er indirekt ein merkwürdiges Verständnis für Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Den Namen des Landes, das sich dieses Angriffs erwehren muss, nennt er jedoch nicht.
Julian Nida-Rümelin:
»Cancel Culture«
Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken.
Piper,
Berlin 2023;
192 Seiten, 24,00 €