Robert Menasses Streitschrift für Europa : Der Zauber der Anfänge und der Ideale ist fort
Der Schriftsteller Robert Menasse sieht das europäische Projekt als bedroht an - und fordert die Überwindung des Nationalstaates.
Es tobt ein Krieg in Europa. Nicht nur auf den Schlachtfeldern der Ukraine, sondern auch in der Europäischen Union, die doch eigentlich ein Friedensprojekt sein will. Dort werden die Bürger zu den Waffen und zum Schließen der Reihen gerufen, wird ein Soldatenlied inmitten von Kanonendonner und Flintenschüssen gesungen, dem Feind zum Schreck. Ein Priester schreitet einem christlichen Heer voran, Söhnen und Gefährtinnen werden die Kehlen durchgeschnitten und mit dem Säbel wird zurückgeholt, was eine fremde Übermacht nahm. Man greift zum Schwert, so scharf und blank, tränkt die Furchen der Felder mit unreinem Blut, marschiert gegen Kanonen und stirbt glorreich in der Schlacht. Für das Vaterland, die Heimaterde, die Nation, das heldenhafte liebe Land.
Ein flammendes Plädoyer für das europäische Friedensprojekt
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse hat all die kriegerischen und blutigen Sentenzen aus den Nationalhymnen der EU-Mitgliedstaaten sowie zweier Beitrittskandidaten neu arrangiert: "Das ist also die ideelle Gesamthymne des Friedensprojektes EU." Ist das noch beißende Polemik oder doch schon bittere Resignation? Wahrscheinlich eine Melange. Zweifelsohne hat Menasse mit seinem rund 190 Seiten umfassenden Essay "Die Welt von Morgen. Ein souveränes demokratisches Europa- und seine Feinde" ein flammendes Plädoyer für das europäische Friedensprojekt zu Papier gebracht. Oder - je nach Lesart - eine geharnischte Streitschrift gegen all jene, die dieses Projekt bedrohen. So ganz neu ist das allerdings nicht, vieles davon hat man von Menasse bereits in den vergangenen Jahren gelesen und gehört.
Ganz oben auf seiner Liste der Bedrohungen steht der Nationalismus. Dieser habe "zu den größten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet". Diese auf den ersten Blick so binsenhafte Wahrheit erscheint längst nicht mehr als Binse, wenn man all den nationalistischen Tönen lauscht, die aktuell auf dem Kontinent angestimmt und auch in konkrete Politik umgesetzt werden.
Für Menasse ist jedenfalls klar, dass das Konzept der Nation und damit auch die Idee von einem Europa der Nationalstaaten überwunden werden muss. Und so stellt er das folgnde Paradigma "als Voraussetzung für alle weiteren Diskussionen über die EU" auf den ersten Seiten seines Buches auf: "Europäische Nationen sind bewusst (!) und planvoll (!!) in einen nachnationalen (!!!) Prozess eingetreten." Kein Argument zur Verteidigung der Nationsidee, des Nationalstaats und nationalstaatlicher Souveränität, so führt Menasse später aus, "hält unseren Erfahrungen stand, unserem Wissen und nicht einmal wie immer gearteten Halbwissen".
Absage an den "deutschen Führungsanspruch"
Wer sich daran stört, wenn Autoren ihre eigenen Argumente und Thesen mit einem wie auch immer definierten kollektivem "wir" zusätzliche Autorität zu verleihen hoffen, der sollte vielleicht lieber die Finger lassen von der Lektüre. Denn Menasse tut dies nur zu gern. Zum Beispiel wenn er die Frage aufwirft, warum die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg Krieg und das "national wiedergeborene Deutschland" nach der Wiedervereinigung an der Haydn-Melodie seiner Nationalhymne festhielt, "bei der wir das ;Deutschland, Deutschland über alles ja doch mithören, auch wenn es offiziell gestrichen ist". Da bleibt schon die Frage, wer hier eigentlich was hört - und warum. Das "Einigkeit und Recht und Freiheit" der Deutschen ist ihm hingegen keine Zeile wert, obwohl es doch genau diese Werte sind, die sich Menasse für Europa wünscht. Aber dies hätte wohl den Hautgout von "deutschem Führungsanspruch", der ihm so zuwider ist.
Robert Menasse ist wahrlich kein Unbekannter, wenn es um die Befindlichkeiten in Europa und die innere Verfasstheit der Europäischen Union geht, Für seinen 2017 veröffentlichten Roman "Die Hauptstadt" heimste er viel Lob von den Kritikern und den Deutschen Buchpreis ein. Seine Satire aus dem Innenleben der Brüsseler Institutionen und ihrer bürokratischen Abgründe gilt als erster Roman über die EU überhaupt. Fünf Jahre später folgte mit "Die Erweiterung" eine literarische Fortsetzung
Die Chiffre "Brüssel" spaltet Europa
Brüssel, so schreibt er nun, erscheine im vorherrschenden politischen Europadiskurs als schwarzes Loch, das die nationalen Demokratien zu verschlucken drohe. Dies sei zwar Unsinn, aber ein wirksamer. Die Chiffre "Brüssel" spalte Europa tatsächlich. Und dies sei im Interesse linker und rechter Nationalisten. Europa drifte "fort vom Zauber der Anfänge, fort von den Ideen und Idealen der Gründergeneration".
Robert Menasse:
Die Welt von morgen.
Ein souveränes demokratisches Europa und seine Feinde.
Suhrkamp,
Berlin 2024;
192 Seiten, 23,00 €
Die Schuld daran verortet Menasse auch bei Staats- und Regierungschefs wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, die die Europäische Kommission als "Garantin des gemeinsamen Interesses der Union" zur Seite drängten. Der Rat heble die Gemeinschaftsmethode aus. Dies widerspreche den europäischen Verträgen.
Ganz gleich wie man zu den politischen Positionen Menasses stehen mag, die Lektüre seines Essays lohnt - "vielleicht zu Jedermanns Nutzen: Diskutieren wir das!", wie er schreibt. Oder auch nur deswegen, weil Robert Menasse ein überzeugter Europäer ist. Und von denen gibt es derzeit nicht all zu viele.