Deutsch-russische Beziehungen : "Deutsche auf dem Thron, Deutsche neben dem Thron"
Der Historiker Stefan Creuzberger erzählt in "Das deutsch-russische Jahrhundert" die Geschichte zweier Völker zwischen Feindschaft und Freundschaft.
Stefan Creuzbergers Monografie über die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen ging kurz vor Beginn des Putin'schen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 in Druck. Das erklärt Creutzbergers letzten Satz: "So bleibt am Ende des Rückblickes nur die Hoffnung, dass die politischen Akteure nicht auf Gewalt und weitere Abgrenzung setzen, sondern sich für Vertrauen, Verständigung und Kooperation engagieren, um möglichst in nicht allzu ferner Zukunft die positiven Traditionen der deutsch-russischen Beziehungen wieder zu beleben."
Wer das quellenreiche und gut geschriebene Buch des Rostocker Historikers Stefan Creuzberger gelesen hat, wird seinen Wunsch nach einer Normalisierung der Beziehungen in "nicht allzu ferner Zukunft" teilen. Schließlich war das 20. Jahrhundert geprägt von Revolutionen und Terror, Weltkriegen und Abgrenzungen. Der Autor beschreibt, wie Feindschaft und Furcht, Bewunderung und freundschaftliche Nähe die gegenseitige Wahrnehmung von Deutschen und Russen bestimmten. Die Hoffnungen des Historikers auf eine bessere Zukunft schienen sich zunächst zu erfüllen: Nach zwei grausamen Weltkriegen kam es tatsächlich zu Versöhnung und Verständigung zwischen den beiden Völkern.
War das 20. Jahrhundert ein deutsch-russischen Jahrhundert?
In ihrer wechselvollen Beziehung beeinflussten Deutschland und Russland die internationale Ordnung und die globale Weltpolitik nachhaltig. Creuzberger stellt gar die These auf, auch wenn das 20. Jahrhundert auf den ersten Blick und aus globaler Perspektive amerikanisch geprägt gewesen sei, so könne man mit guten Gründen auch von einem deutsch-russischen Jahrhundert sprechen.
Das Buch ist für die deutsche Gesellschaft, die in Bezug auf Krieg und Frieden in der Ukraine nicht immer einer Meinung ist, ein sachlicher Wegweiser. So kritisiert Creuzberger, dass in der öffentlichen Debatte die "maßgeblichen historischen Bezugspunkte abhandengekommen" seien. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 sei das Verhältnis zwischen Berlin und Moskau extrem belastet gewesen. Ungeachtet der Schärfe des Konfliktes hätten es die politisch Verantwortlichen hierzulande versäumt, "die Motivlage, die Antriebsmomente, Erfahrungen, Prägungen und Befindlichkeiten der Kremlführung" zu ergründen. Des Weiteren geht der Autor davon aus, dass nicht nur Wladimir Putin persönlich, sondern auch die russische Bevölkerung den "Verlust des eigenen Imperiums und des Supermacht-Status" schmerzhaft empfinde und beklage. Unerwähnt bleibt allerdings, dass es sich hierbei um bloße Behauptungen der staatlichen russischen Umfrageinstitute handelte, die unreflektiert von westlichen Politikern, Geschäftsleuten und Journalisten weiterverbreitet wurden.
Enge wirtschaftliche, politische, kulturelle und wissenschaftliche Kontakte
"Deutsche auf dem Thron, Deutsche neben dem Thron, die Feldherren Deutsche, die Außenminister Deutsche", kritisierte 1859 der Urvater der Russischen Revolution, Alexander Herzen, die zaristische Elite. Ob er bei den vielen Deutschen "bis zum Überdruss" auch an seine deutsche Mutter gedacht hat, ist nicht bekannt. Aber nicht nur enge dynastische Verbindungen, sondern vor allem die nach Russland ausgewanderten deutschen Bauern, Handwerker, Pädagogen, Soldaten und Gelehrten prägten über Jahrhunderte die deutsch-russischen Beziehungen. Mit keinem anderen Volk ging Russland so enge wirtschaftliche, politische, kulturelle und wissenschaftliche Kontakte ein - dies galt auch noch nach den furchtbaren Gräueltaten in zwei Weltkriegen.
Stefan Creuzberger:
Das deutsch-russische Jahrhundert.
Geschichte einer besonderes Beziehung.
Rowolt Verlag,
Hamburg 2022;
670 Seiten, 36,00 €
Creuzberger erzählt von der deutschen Russophilie beziehungsweise Russophobie und verweist auf die deutsche Geburtshilfe bei der Machtübernahme der Bolschewiki im Oktober 1917. Angesichts des umfangreichen Quellenmaterials kann der Autor nur die wichtigsten Stationen der wechselseitigen Beziehungen anhand von zentralen Wegmarken darlegen: Der Brest-Litowsker Vertrag, Rapallo, die "Schwarze Reichswehr", der Hitler-Stalin-Pakt 1939, Konrad Adenauers Moskau-Besuch, Willy Brandts Ostpolitik und Michael Gorbatschows Perestrojka, an die sich die deutsche Einheit und der Zerfall der Sowjetunion anschließen. In jedem Kapitel, das sowohl chronologisch wie auch problemorientiert aufgebaut ist, wird der Leser viel Interessantes entdecken. Im Kapitel "Wirkungsmacht der Ideologien?" schildert Creuzberger beispielsweise den Terror und die Gewalt in beiden Staaten sowie den Respekt der beiden Diktatoren Hitler und Stalin voreinander, die "mitunter sogar gegenseitig fasziniert auf die von ihnen geschaffene Ordnung blickten".
Im letzten umfangreichen Kapitel beschreibt der Creuzberger die autoritäre Politik Präsident Putins, der die leidvolle Geschichte des "Großen Vaterländischen Krieges" aus der Opferperspektive gegen Deutschland instrumentalisiere: Putin schüre gezielt Bedrohungsängste und Kriegshysterie, um dem eigenen Volk die Annexion der Krim als Schutzmaßnahme gegen den "kollektiven Westen" zu verkaufen. Aber auch in den Jahrzehnten davor schon nutzte die staatliche russische Propaganda die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg als Instrument der Herrschaftslegitimation.