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Generationswechsel im Bundestag : "Die Jungen sind angetreten, um etwas zu verändern"

Die Journalistin Livia Gerster spricht im Interview über junge Bundestagsabgeordnete, TikTok und eine veränderte politische Kultur.

19.12.2022
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6 Min
Foto: Bildschirmfoto

Junge Abgeordnete wie Emilia Fester (Grüne), hier bei einem Interview mit Funke Medien auf TikTok, nutzen soziale Medien intensiv, um Politik zu machen.

Frau Gerster, junge Abgeordnete hat es schon früher gegeben. Was ist nun so anders am aktuellen Bundestag?

Livia Gerster: Ganz einfach - es hat noch nie zuvor so viele Junge im Bundestag gegeben. Zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses ist ein Viertel seiner Mitglieder unter vierzig. 50 Abgeordnete waren nicht einmal 30 Jahre alt, als sie ins Parlament kamen.

Es gibt auch mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund, mehr Frauen, erstmals zwei bekennende transgeschlechtliche Frauen. Was verbindet "die Neuen" in ihrer Unterschiedlichkeit?

Livia Gerster: Was die jungen MdBs parteiübergreifend antreibt, ist, dass sie für ihre Generation streiten wollen. Bei den Jüngeren im Land hat sich in den letzten Jahren viel Frust angestaut: Sei es in Sachen Klimaschutz, in der Corona-Politik oder angesichts unseres maroden Rentensystems - viele junge Menschen hatten das Gefühl, das sie nicht genügend von der Politik gesehen werden, weil die immer nur an die Boomer denkt...

... die Generation, die in der Zeit steigender Geburtenraten zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre geboren wurde...

Livia Gerster: ...genau, eine sehr dominante Generation, die ob ihrer zahlenmäßigen Stärke eine viel wichtigere Wählergruppe ist als die Generation der Millennials, zu der die neuen, jungen Abgeordneten gehören. Dass Fridays for Future durch die Straßen zieht, reicht ihnen nicht. Es braucht einen Marsch durch die Institutionen - dieses Bewusstsein findet man nicht nur bei jungen Grünen, sondern bei allen jungen Abgeordneten.


„Es gibt da eine neue Offenheit, auch über eigene Schwächen und Zweifel zu sprechen.“
Livia Gerster

Sie haben aber noch eine weitere Gemeinsamkeit ausgemacht: Junge machten anders Politik, schreiben Sie in Ihrem Buch. Inwiefern?

Livia Gerster: Junge Abgeordnete eint der Ansatz, Politik über soziale Medien zu erklären und auch zu machen. Sie tun das sehr nahbar und unterhaltsam, sodass es junge Menschen interessiert.

Wenn Emilia Fester von den Grünen, die mit 24 Jahren eine der jüngsten Abgeordneten ist, Tanzvideos auf Tiktok postet, ihr Fraktionskollege Bruno Hönel seine Depression auf Twitter öffentlich macht - ist das ein neuer Politikstil?

Livia Gerster: Das ist eine andere politische Kultur, würde ich sagen. Es gibt da eine neue Offenheit, auch über eigene Schwächen und Zweifel zu sprechen. Den Jungen ist es wichtig zu zeigen, dass Politik nicht von Maschinen oder Workaholics gemacht wird, die keine Freunde und kein Familienleben haben und denen der Bezug zur Wirklichkeit fehlt, sondern von Menschen. Menschen, die nicht immer 200 Prozent geben können, die auch mal krank werden und eine Auszeit nehmen müssen.

Früher haben Politiker ihre Krankheiten sorgsam verheimlicht.

Livia Gerster: Ja, Willy Brandts Depressionen wurden als "Herbstgrippe" heruntergespielt, Helmut Schmidts Ohnmachtsanfälle während seiner Amtszeit erfolgreich vertuscht. Erst lange nach seiner Amtszeit als Kanzler hat er stolz davon erzählt - als Ausweis seines Pflichtgefühls und eisernen Willens. Da ist mir die Offenheit der Jungen lieber.

Warum?

Livia Gerster: Offenheit macht Politiker nahbarer, die Politik menschlicher und damit auch attraktiver. Viele Junge schreckt der Politikbetrieb, so wie er ist, ab: Da ist die hohe Arbeitsbelastung, die Mandat und Familienleben schwer vereinbar macht, dazu kommen brutale Machtkämpfe, in denen sich nur die Hartgesottensten durchsetzen können. Im Gegensatz dazu betonen etwa die beiden Grünen-Politikerinnen Ricarda Lang und Jamila Schäfer ganz bewusst ihre Freundschaft. Wie weit das trägt, wird man sehen. Aber es ist ein ernsthafter Versuch, zu verhindern, dass der politische Wettbewerb destruktiv wird.

Foto: Ekko von Schwichow
Livia Gerster
Livia Gerster, geboren 1990 in München, studierte Arabistik und Geschichte in Leipzig und Berlin. Seit 2016 ist sie Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seit 2018 schreibt sie für den Politikteil der Sonntagszeitung.
Foto: Ekko von Schwichow

Wir erleben einen Generationenwechsel im Bundestag. Die Jungen haben schnell Verantwortung übernommen.

Livia Gerster: Ja, tatsächlich sind selten zuvor Junge so schnell in einflussreiche Posten und Ämter gekommen wie jetzt. Sie sind Sprecherinnen, Obmänner, Staatssekretärinnen oder sitzen in prestigeträchtigen Ausschüssen wie dem Auswärtigen Ausschuss. Mit Ricarda Lang wurde eine 28-Jährige Co-Parteivorsitzende der Grünen. Das zeigt, dass die Älteren verstanden haben, dass es wichtig war, die Jüngeren schnell einzubinden.

Ob Klimawende oder mehr Gerechtigkeit - viele der Neuen hatten große Pläne. Dann kam der Ukrainekrieg. Wie haben sie auf den Realitätschock reagiert?

Livia Gerster: Sie waren natürlich - wie alle - erst einmal überfordert. Dann aber sie haben sich erstaunlich schnell und flexibel auf die neue Situation eingestellt. Anders als die älteren Friedenspolitiker bei SPD und Grünen, die sich deutlich schwerer taten, haben die Jungen von Anfang an bei Waffenlieferungen und Sanktionen Druck gemacht.

Wie erklären Sie sich das?

Livia Gerster: Die Jungen hatten es sicher leichter, weil sie unbelastet vom Erbe der verfehlten Russland-Politik sind. Sie waren aber auch eher bereit, dazuzulernen als manche störrischen älteren Fraktionskollegen.

Waren sie auch eher bereit, Ideale über Bord zu werfen?

Livia Gerster: Das würde ich nicht so sehen. Die Auswirkungen des Krieges auf unsere Energieversorgung zu bewältigen, verlangt den Jungen viel ab. Für die Klimaaktivistin Kathrin Henneberger, die jahrelang gegen den Braunkohle-Abbau protestiert hat, ist es heute als Abgeordnete sehr bitter, ihren Anhängern den Abriss des Dorfes Lützerath vermitteln zu müssen. Solche Entscheidungen werden das Verhältnis von Fridays for Future zu den jungen Grünen sicher noch belasten. Schon jetzt sind Zeichen der Enttäuschung und Entzauberung erkennbar.

Entzaubert wirkt auch Kevin Kühnert. Der einstige GroKo-Rebell ist heute loyaler SPD-Generalsekretär. Ist diese schnelle Anpassung typisch für die neuen Jungen im Bundestag?

Livia Gerster: Die Jungen zeigen, dass sie pragmatisch sind und auch mal Abstand von früheren Positionen nehmen. Aber nicht unbedingt aus Karrieregründen, sondern eher weil sich die Perspektive ändert. Kevin Kühnert ist ein Sonderfall, weil bei ihm die Entwicklung so rasant verlief. Dass er innerhalb weniger Jahre vom Scholz-Verhinderer zu einer Art obersten Regierungssprecher geworden ist, verstehen viele nicht. Aber eigentlich ist es ihm doch hoch anzurechnen, dass er nicht nur vom Rand aus kritisiert, sondern versucht, für seine Partei zu kämpfen - auch wenn er dafür Popularität einbüßt.


„Es macht einen Unterschied, wenn bei der Debatte über das Staatsangehörigkeitsrecht plötzlich junge Leute mitreden, die selbst erst vor wenigen Jahren den deutschen Pass bekommen haben.“
Livia Gerster

Eine Anpassung im Amt - ist das nicht der normale Gang der Dinge?

Livia Gerster: Ja, aber ich finde, die Älteren machen es sich zu einfach, wenn sie nur auf die üblichen Zähmungsprozesse verweisen und meinen, irgendwann würden die Jüngeren doch genauso wie sie selbst. Die Jungen sind ernsthaft angetreten, um etwas zu verändern. Sie haben zwar einen harten Anpassungsprozess durchlaufen, mit bitteren Kompromissen und selten sofort erkennbaren Erfolgen, trotzdem halten sie an ihren Zielen fest - zum Beispiel, den politischen Betrieb verändern zu wollen.

Wie fällt die Bilanz nach einem Jahr Bundestag aus? Haben die Jungen die Politik verändert?

Livia Gerster: Ich finde, dass sich einiges verändert hat. Es macht einen Unterschied, wenn bei der Debatte über das Staatsangehörigkeitsrecht plötzlich junge Leute mitreden, die selbst erst vor wenigen Jahren den deutschen Pass bekommen haben. Oder wenn MdBs wie Emilia Fester von den Grünen oder Muhanad Al-Halak von der FDP Tausende junge Menschen über Instagram und Tiktok für Politik begeistern, die damit bisher wenig zu tun hatten. So erreichen für die Demokratie im Zweifel mehr als der Bundespräsident mit seinen Reden.

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Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble mahnte auch mit Blick auf die Jungen, Abgeordnete seien Vertreter des ganzen Volkes, nicht nur ihrer eigenen gesellschaftlichen Gruppe.

Livia Gerster: Das ist ein wichtiges Prinzip, dem sich auch sicher die jungen Abgeordneten verpflichtet fühlen. Doch sie halten es nicht nur hoch, sie füllen es auch mit Leben und beweisen, dass es nicht immer der 60-jährige Ostwestfale sein muss, der das Volk vertritt, sondern es genauso gut eine 30-jährige Dresdnerin mit syrischen Wurzeln sein kann.

Livia Gerster:
Die Neuen.
Eine Generation will an die Macht.
C.H. Beck Verlag,
München 2022;
335 Seiten, 24 €