Geschichte Mitteleuropas : Die Wiege des modernen Staates
Martyn Rady erzählt die jahrhundertealte Geschichte des einzigartigen Kulturraums im Herzen Europas und seiner Strahlkraft in alle Welt.
Nach dem Fall der Mauer, der Implosion der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts schlug mit dem Sieg der liberalen Demokratie über den Kommunismus nicht das "Ende der Geschichte", wie der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama 1992 mutmaßte. Vielmehr setzte nach einer kurzen Atempause, in der viele Beobachter noch an eine umfassende "Friedensdividende" nach den Jahrzehnten des Kalten Krieges glaubten, ein Prozess der Neuordnung in Europa und dem Rest der Welt ein, die Rückkehr nationalistischer Ideologien und ethnischer Konflikte, Machtkämpfe und Konfrontationen bis hin zum Krieg in der Ukraine.
Dass wir es inzwischen mit einer anderen geopolitischen Konstellation zu tun haben als mit jener Dichotomie zwischen Ost und West, machte schon im vergangenen Jahr der US-Historiker Jacob Mikanowski mit seinem Abgesang auf die alten Verhältnisse deutlich. Sein Buch "Adieu, Osteuropa" war der Abschied von einem Schattenreich, das einst die UdSSR und ihre Satellitenstaaten umfasste. Europa war in seiner Mitte von einem "Eisernen Vorhang" durchtrennt, diesseits dominierten Demokratie und Kapitalismus, jenseits Sozialismus und Planwirtschaft.
Geistiger, politischer, ökonomischer und soziokultureller Einfluss
Martyn Rady, Professor für Mitteleuropäische Geschichte in London, hält die Zeit für gekommen, die Perspektive zu wechseln, den Blick auf das Herz des Kontinents zu richten. Zwar liefert der Historiker, anders als der Untertitel seines Buches verheißt, keine "neue Geschichte Mitteleuropas", sondern eine andere, durch die Zeitläufte veränderte Sichtweise auf eine Region, die es seit vielen Jahrhunderten gibt, natürlich auch schon vor der Spaltung in zwei feindliche Militärblöcke. Rady zeigt Mitteleuropa als zusammenhängenden und "einzigartigen" Kulturraum, der geistig, politisch, ökonomisch und soziokulturell ausstrahlte, nicht nur auf den Rest des Kontinents, sondern auch auf andere Weltregionen.
Martyn Rady:
Vom Rhein bis zu den Karpaten.
Eine neue Geschichte Mitteleuropas.
Rowohlt Berlin,
Berlin 2024;
688 Seiten, 38,00 €
Was aber ist Mitteleuropa, wo liegen seine Grenzen? Das ist eine über die Jahrhunderte auch unter Wissenschaftlern umstrittene Frage, die meist "ex negativo" beantwortet wurde, also durch den Verweis darauf, was nicht zu Mitteleuropa zählt, wie es Georg Hassel 1805 formulierte: Mitteleuropa sei jener Teil des Kontinents, der weder zu Frankreich noch zu Russland gehöre.
Rady folgt der Darstellung vom "Herzen Europas"
Rady legt sich jedenfalls zur einen Seite hin fest: "Mitteleuropa wird im Westen vom Rhein begrenzt." Im Osten dagegen fehle eine vergleichbar klare "physisch-geographische Demarkation". Der Autor nennt die Karpaten als "Südostgrenze Mitteleuropas", auch wenn er einräumen muss, dass dieses Gebirge Mitteleuropa nur teilweise vom Osten und Süden des Kontinents trennt.
Die eindrucksvolle Studie umfasst "im Wesentlichen das heutige Deutschland, Polen, Tschechien und die Slowakei, Ungarn, Österreich und Slowenien sowie das westliche Rumänien und Siebenbürgen", aber auch "Gebiete der heutigen Ukraine, Kroatiens, der Schweiz und der baltischen Staaten". Abgegrenzt wird Mitteleuropa nach dieser Definition vor allem von England, Frankreich und den Benelux-Ländern im Westen, Skandinavien im Norden und Russland im Osten. Der Historiker folgt damit einer Darstellung vom "Herzen Europas", die sich das gesamte 19. Jahrhundert über in allen gängigen Reiseführern und Lexika fand, im 20. Jahrhundert nicht zuletzt durch die beiden Weltkriege aber nachhaltig erschüttert wurde.
Eine Reihe zivilisatorischer Gemeinsamkeiten seit dem Mittelalter
Bei allen Unterschieden Mitteleuropas zu Westeuropa, etwa bei Sprachen und Geografie, teilen beide Regionen doch eine Reihe von zivilisatorischen Gemeinsamkeiten seit dem Mittelalter: Königreiche und Herzogtümer, Ritterburgen und katholische Klöster, aufblühende Städte und gutsituierte Kaufleute, nicht zuletzt Schulen und Universitäten. Auch Reformation und Revolution wirkten sich hier wie dort aus, Aufklärung, Romantik und Industrialisierung hinterließen gleichermaßen in West- und Mitteleuropa ihre Spuren. Dennoch zeigen sich für Rady spezifische Differenzen und Eigenheiten, so die für Mitteleuropa typische Selbstverwaltung von Städten und Dörfern, das Aufkommen von frühen Parlamenten und Ständeversammlungen, eine Form religiöser Toleranz bis ins 17. Jahrhundert hinein, die es so in Frankreich, Spanien oder England nicht gab.
"In Mitteleuropa", stellt der Autor fest, "wurde der moderne Staat geboren." Allerdings auch die Bürokratie, die individuelle Freiheitsrechte stärker einschränkte als bei den westlichen Nachbarn. Von den Instrumenten der staatlichen Verwaltung profitierten nicht zuletzt Preußen und Habsburger, lange Zeit die beherrschenden Faktoren im mitteleuropäischen Machtgefüge, das von Invasoren und Imperialisten immer wieder bedroht wurde - von Hunnen und Osmanen, von Schweden und Russen. Letztere sind auch aktuell wieder die größte Gefahr für die Stabilität in der Mitte des Kontinents. Das waren sie, sagt der Historiker, seit dem 18. Jahrhundert immer. Putins Besetzung der Krim und sein Krieg gegen die Ukraine könnten "nur der Anfang und Vorbote weiterer Eroberungen" sein.