Rezension zu "Der Judenhass" : "Ein abscheulicher Volksstamm"
Der Historiker Sebastian Voigt blickt zurück auf 2.500 Jahre Judenhass und liefert Erklärungen für die Entwicklung des Antisemitismus seit der Antike bis heute.
Nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto werden Juden 1943 von der SS abgeführt. Mehr als sechs Millionen Juden werden im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten ermordet.
"Es gibt ein Volk, zerstreut und abgesondert unter allen Völkern in allen Ländern deines Königreichs, und ihr Gesetz ist anders als das aller Völker, und sie handeln nicht nach des Königs Gesetzen. Es ziemt dem König nicht, sie gewähren zu lassen. Gefällt es ihm, so lasse er verfügen, dass man sie umbringe." Mit diesen Worten stachelt der persische Hofbeamte Haman König Ahasveros zum Genozid an den Juden an. So ist es im Buch Ester der Bibel überliefert.
Historisch lässt sich die biblische Begebenheit nicht sichern. Aber sie kann symbolisch gelesen werden für den Judenhass, der in den folgenden 2.500 Jahren bis heute in unterschiedlichsten Ausprägungen in den Köpfen aller Generationen spuken und zum größten Menschheitsverbrechen, dem Holocaust, führen sollte. Und deshalb hat der Historiker Sebastian Voigt die biblische Geschichte wohl nicht nur aus chronologischen Gründen an den Beginn seines Buches "Der Judenhass. Eine Geschichte ohne Ende?" gestellt.
Lange Tradition stereotyper Judenbilder
Es ist eine äußerst kompakte und dichte Darstellung, die Voigt vorgelegt hat. Auf 230 Seiten die Entwicklung des Judenhasses von den ersten antijüdischen Zeugnissen in der Antike - der römische Historiker Tacitus etwa bezeichnete die Juden Anfang des zweiten Jahrhunderts als "abscheulichen Volksstamm" - über den religiös-christlich geprägten Antijudaismus des Mittelalters bis hin zum rassistisch begründeten Antisemitismus der Nationalsozialisten und dem israelbezogenen Antisemitismus in der jüngsten Zeit darzustellen, ist ein gewagtes Unterfangen. Vor allem gelingt es ihm überzeugend darzustellen, wie antijüdische Ressentiments seit der Antike bis heute - meist nur in leichten Variationen - weitergereicht wurden.
So lässt sich beispielsweise eine der zentralen Thesen der rechtsextremen QAnon-Verschwörungsmythologie, eine weltweit agierende, satanistische Elite entführe, foltere und ermorde Kinder, um aus ihrem Blut ein Verjüngungsserum zu gewinnen, auf das Motiv des jüdischen Ritualmordes und der Entführung christlicher Kinder zurückführen, das im Mittelalter weit verbreitet war. Und dieses Motiv wiederum fußt auf den Kindermord von Bethlehem auf Befehl des jüdischen Königs Herodes in der Weihnachtsgeschichte des Matthäusevangeliums. Antisemitismus, so schreibt Voigt, basiere "auf einer langen Tradition stereotyper Judenbilder im kulturellen Gedächtnis, die situativ abgerufen werden können".
Antisemitismus liegt nicht am Verhalten der Juden
Voigt legt großen Wert auf die Feststellung, dass Ressentiments gegen Juden nicht aus ihrem eigenen Verhalten zu erklären sind, sondern ihren "Ursprung in der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft" haben. Diese Feststellung trifft auf die Verhältnisse in der europäischen Geschichte zweifelsfrei und ohne das berüchtigte "aber" zu. Juden mussten stets als vermeintlich Schuldige herhalten, wenn Menschen mit den herrschenden Verhältnissen überfordert waren.
Schon schwieriger zu klären ist die Frage, wo Kritik am Staat Israel übergeht in Judenhass. Darüber herrsche weder in der Wissenschaft noch in der Politik Konsens, weiß Voigt. Vernichtungsfantasien gegenüber Israel sind jedoch in jedem Fall antisemitisch.
Sebastian Voigt:
Der Judenhass.
Eine Geschichte ohne Ende?
Hirzel, Stuttgart 2024; 232 S., 25,00 €