Rezension : Ein hohes Maß an Patriotismus
Der von Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband "Die Ukraine" beschreibt den langen Weg des Landes in die Unabhängigkeit und nach Westen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion im Dezember 1991 stand allein Russland im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die nicht-russischen Nationen, darunter so bevölkerungsreiche wie die ukrainische, galten in Politik und Wissenschaft als vernachlässigbar, betont der renommierte Historiker Gerhard Simon in seinem Beitrag für den empfehlenswerten Sammelband "Die Ukraine". Bereits in seinem Standardwerk über die Nationalitätenpolitik in der UdSSR hatte Simon 1985 prognostiziert, dass der Nationalismus, insbesondere der der Ukrainer, eine entscheidende Rolle beim Untergang des kommunistischen Imperiums spielen werde. "Nur die entschlossene Fortsetzung des Weges nach Westen eröffnet Perspektiven für eine unabhängige und freiheitliche Ukraine", ist sich Simon angesichts der aktuellen Situation sicher.
Der von Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband präsentiert in 25 hochkarätigen Artikeln die wichtigsten Stationen der ukrainischen Geschichte und ihren Weg in die Unabhängigkeit. Neben Beiträgen über Religion und Kirche, Nationenbildung oder Gedächtnispolitik werden auch die in der Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierten Themen behandelt. Darunter finden sich Beiträge über "Die Massengewalt der Organisation Ukrainischer Nationalisten und der Ukrainischen Aufständischen Armee", den Holocaust und über "Solidarität und Hilfe während des Judenmords in der Ukraine".
Bundestag hat Holodomor als Völkermord anerkannt
Der Bundestag erkannte im November 2022 den Holodomor, die vom Sowjetregime verübten Menschheitsverbrechen an den Ukrainern, offiziell als "Völkermord" an. Der Osteuropa-Historiker Stephan Merl beleuchtet in seinem Beitrag die Hungersnot von 1932/1933 und kommt zu dem Ergebnis, dass "die Ukrainer starben, weil sie Bauern waren, nicht weil sie Ukrainer waren". Das mindere jedoch in keiner Weise die "Verurteilungswürdigkeit von Stalins Handeln", denn der Diktator habe "bewusst den Tod von Millionen Menschen in Kauf" genommen. Die These vom Holodomor als Völkermord rücke allerdings die Verbrechen Stalins "in den Hintergrund, um als Narrativ von der Zusammengehörigkeit der Ukrainer ihre Abgrenzung von den Russen zu belegen".
Angesichts der brutalen Aggression Russlands billigt Wolfgang Benz den Ukrainern ein "ein hohes Maß an Patriotismus, nationalem Selbsterhaltungswillen und entsprechender Emotion" zu. Dessen ungeachtet dürfe aber ein Terrorist wie Stepan Bandera nicht als Nationalheld verehrt werden, mahnt der Historiker. Nach demokratischem Verständnis könne Bandera, der "für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich war", nicht für die nationale Selbstbehauptung stehen. Dies gelte umso mehr, wenn sich die Ukraine der westlichen Wertegemeinschaft anschließen wolle.
Porträt über Wolodymyr Selenskyi
Der ukrainische Historiker Roman Dubasevych porträtiert in einem der interessantesten Beiträge des Bandes über "Heldentum und Männlichkeit" nicht nur Präsident Wolodymyr Selenskyj, sondern beschreibt das Martyrium der ukrainischen Nation. Um diesem "ein Ende zu setzen, bedürfe es heute einer vernichtenden Niederlage Russlands auf dem Schlachtfeld". Wie das gelingen soll, verrät das Buch allerdings nicht.
Wolfgang Benz (Hg.):
Die Ukraine
Kampf um Unabhängigkeit.
Metropol,
Berlin 2023;
256 Seiten, 29,00 €