Prechts und Walzers Medienkritik : Ein unbequemer Weckruf
Fernsehphilosoph Richard David Precht und Sozialpsychologe Harald Welzer ecken an mit ihrer Sicht auf das Selbstverständnis der vierten Gewalt im Staate.
Ein Buch wird in nahezu allen Besprechungen verrissen und klettert dennoch sofort nach Erscheinen auf Platz eins der Bestsellerliste. Dieser Zwiespalt zeigt, wie tief der Graben zwischen Meinungsführern und Publikum in Deutschland inzwischen geworden ist. Wenn Autoren, und seien sie noch so prominent, Journalismusschelte üben, führt das selten zu positiven Rezensionen in den Leitmedien - erst recht nicht, wenn es um so umstrittene Themen wie die Corona-Politik oder gar den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine geht.
Der Fernsehphilosoph Richard David Precht und der Sozialpsychologe Harald Welzer gehören zu den Unterzeichnern eines Offenen Briefs an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Den Anstoß zu der Initiative, die auf eine Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine drängt und den Kanzler für sein vorsichtiges Agieren lobt, gab die "Emma"-Herausgeberin Alice Schwarzer. Der Intellektuellen-Aufruf, an dem sich sogar hochrangige Militärs beteiligten, stieß sofort auf heftigen Widerspruch und löste eine in der "Zeit" veröffentlichte Gegenpetition aus. Die keineswegs von bösen Kräften gelenkte und manipulierte Mehrheitsmeinung - so distanzieren sich die Autoren von Verschwörungstheorien - stellt sich seit Monaten vorbehaltlos auf die Seite der Ukraine. Sie habe aber, konstatieren die Verfasser, laut Umfragen keineswegs eine Mehrheit in der Bevölkerung hinter sich.
Klare Rollenverteilung in deutschen Talkshows
Eindeutige mediale Parteinahme charakterisierte man einst im Irak-Krieg als "embedded journalism". Gemeint war, dass Reporter auf Einladung und oft auch Kosten einer Kriegspartei unterwegs waren und entsprechend interessengeleitet berichteten. Im aktuellen Konflikt erhält man schon deswegen fast nur Informationen von einer Seite der Front, weil die Reise nach und die Berichterstattung aus Russland für Medienschaffende schwierig geworden ist.
Die Gegenperspektive stammt daher, wenn sie überhaupt eingenommen wird, von festen Korrespondenten aus Moskau, weit entfernt vom Geschehen. Und auch in den deutschen Fernseh-Diskussionsrunden zum Ukraine-Krieg sind die Rollen meist klar verteilt: Ein einsamer Gegner der vorherrschenden Politik, so monieren Richard David Precht und Harald Welzer aus eigener Erfahrung, müsse sich dort meist mit drei oder vier stromlinienförmig argumentierenden Kontrahenten und mitunter auch noch einer wenig neutralen Moderation auseinandersetzen.
Wachsender Einfluss sozialer Medien
Prechts und Welzers Buch ist ein unbequemer Weckruf an eine Profession, die ihr in der eigenen Aus- und Weiterbildung gern bemühtes Selbstverständnis als "Vierte Gewalt" im Staate derzeit unzureichend ausfüllt. Die zugespitzten Thesen der Verfasser beschränken sich dabei nicht auf das Anprangern der aus ihrer Sicht weitgehend geschlossenen Einheitsfront von Medien und Politik in Krisenzeiten.
Breiten Raum nimmt auch der wachsende Einfluss der von ihnen als "Direktmedien" bezeichneten Nachrichtenkanäle im Internet ein. Twitter, TikTok oder Facebook untergraben seit Jahren schleichend die traditionelle Funktion des "Gatekeeping", eines Journalismus, der die Informationsflut qualifiziert vorsortiert und gewichtet, ohne sich dabei "gemein zu machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten". So beschrieb Hans-Joachim Friedrichs, viel zitiertes Vorbild und langjähriger Moderator der ARD-Tagesthemen, einst das Ethos seines Berufsstandes.
Richard David Precht, Harald Welzer:
Die vierte Gewalt.
Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.
S. Fischer Verlag
Frankfurt/M., 2022
288 Seiten, 22 €