Rat für eine sachliche Debatte über Israel : Entsetzlich widersprüchlich
Meron Mendels empfehlenswertes Buch "Über Israel reden" zu einer vom Freund-Feind-Denken geprägten Debatte.
Es sind zwei bemerkenswerte Sätze, die Bundeskanzlerin Angela Merkel am 18. März 2008 vor der Knesset spricht: "Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung ist Teil der Staatsräson meines Landes." Bemerkenswert sind Merkels Ausführungen vor dem israelischen Parlament in mehrfacher Hinsicht: Zum einen wurde die Formel von Israels Sicherheit als Staatsräson regelrecht zum Lehrsatz deutscher Politik, wurde von Repräsentanten aller im Bundestag vertretenen Parteien mehrfach wiederholt und findet sich auch im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition. Gleichzeitig wird sie aber von einer Mehrheit der Deutschen - zumindest nach Meinungsumfragen - nicht geteilt.
Applaus für die Bundeskanzlerin in der Knesset: Am 18. März 2008 spricht Angela Merkel als erste ausländische Regierungschefin vor dem Parlament Israels.
Für Meron Mendel ist Merkels Aussage aber vor allem eins: schlichtweg falsch. Denn Israels Sicherheit sei mitnichten für jede Bundesregierung Staatsräson gewesen. Obwohl sich Israel bereits 1956 um die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Bundesrepublik bemüht habe, sei sie "bis 1965 die einzige westliche Nation ohne diplomatische Repräsentanz in Tel Aviv" gewesen, weiß der Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main in seinem mehr als empfehlenswerten Buch "Über Israel reden" zu berichten. In Deutschland habe die Sorge bestanden dass die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel eine Anerkennung der DDR durch die arabischen Staaten führen würde. Es sei "ein Skandal", dass die Deutschen zehn Jahre nach dem Holocaust die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel verweigerten, stellt der israelisch-deutsche Autor klipp und klar fest.
Frage nach der Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel
Dies ist nur ein Beispiel von vielen für das höchst ambivalente Verhältnis der Deutschen zu Israel, das Mendel präsentiert. Anhand der Diskussion um den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, der BDS-Bewegung, des Antisemitismus-Skandals auf der Documenta, der historischen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Kolonialismus und der deutschen Erinnerungskultur insgesamt, dekliniert Mendel eine der großen Streitfragen in Deutschland: Wo verläuft die Grenze zwischen Antisemitismus und Kritik an Israel? Und er geht der Frage nach, wo es überhaupt um Israel geht und nicht um deutsche Befindlichkeiten.
"Die leidenschaftlichsten Unterstützer der israelischen und der palästinensischen Sache leben in Deutschland", befindet Mendel. "Aber die meisten von ihnen haben nicht die leiseste Ahnung von Situation vor Ort." Dies sei Israelis wie Palästinensern gleichermaßen bewusst - und weil sie über einen ähnlichen Sinn für Humor verfügten, würden sie gleichermaßen über die "Nation mit 80 Millionen Nahostexperten" schmunzeln. Es sind diese süffisanten Bemerkungen Mendels, die seinem Buch trotz der Schwere des Themas stellenweise gar eine gewisse Leichtigkeit verleihen. "Ein ruhiges Buch, das um Ausgleich in hitzigen Debatten bemüht ist." So heißt es in der Begründung der Jury zur Nominierung für den diesjährigen Deutschen Sachbuchpreis. Treffender lässt sich Mendels Debattenbeitrag kaum charakterisieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er sich um klare und dezidierte Standpunkte drücken würde - im Gegenteil. Aber er tut dies stets mit Offenheit und auch Empathie für die Gegenseite.
Mendel: Ziele der BDS-Bewegung sollten nicht von vornherein als antisemitisch abgetun
Beispiel BDS-Bewegung: Mendel arbeitet an Beispielen heraus, warum es sich bei der Boykott-Bewegung gegen Israel um eine "totalitäre Ideologie" handelt, "die keine Differenzierung" kennt, die radikale Kräfte auf beiden Seiten stärkt und eine große Anziehungskraft auf Antisemiten ausübt, die in der Kampagne auch "haufenweise" zu finden seien.
Umgekehrt moniert Mendel jedoch, dass die Ziele der BDS-Bewegung nicht von vornherein als antisemitisch abgetan werden sollten. So sei die Forderung für ein Rückkehrrecht für die nach 1948 geflüchteten oder vertriebenen Palästinenser aus deren Warte durchaus nachvollziehbar. Für eine bessere Debattenkultur in Deutschland sei es "nicht entscheidend, ob die palästinensische Rückkehrforderung berechtigt und praktikabel ist". Entscheidens sei, dass Menschen ihre Hoffnung auf Rückkehr offen aussprechen zu dürfen, ohne ihnen dabei zu unterstellen, in erster Linie Juden schaden zu wollen.
Zu den großen Stärken des Buches gehört es, dass Mendel seine Standpunkte mit seiner eigenen Biographie verknüpft. Der gebürtige Israeli, der in einem Kibbuz aufwuchs, seinen Militärdienst in Hebron im Westjordanland ableistete und mit einer Muslima verheiratet ist, hat selbst so seine Schwierigkeiten mit der Entwicklung in Israel seit 1967. Und trotzdem sei er froh, nicht "als ,Bio-Deutscher' im Israel-Palästina-Konflikt Position beziehen zu müssen".
Seinen Lesern gibt Meron Mendel am Ende einen Rat für eine sachliche Debatte über Israel mit auf den Weg: "Erstens, vergiss, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist. Zweitens, vergiss nie, dass Israel nach Auschwitz entstanden ist." Wer sich darüber beklage, dass diese Forderung "entsetzlich widersprüchlich" sei, der habe "damit verdammt recht".
Meron Mendel:
Über Israel reden.
Eine deutsche Debatte.
Kiepenheuer & Witsch,
Köln 2023;
224 Seiten, 22,00 €