Keine Veränderungen in Russland zu erwarten : "Es ist Putins Krieg"
Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky inszenierte die Zukunft seiner Heimat Russland in düsteren Dystopien. Jetzt wurden sie zur grausamen Wirklichkeit.
Herr Glukhovsky, wie bewerten Sie die Situation nach dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine?
Dmitry Glukhovsky: Für die Menschen im Bombenhagel handelt es sich um eine große Tragödie. In Russland beobachten wir die Entstehung einer totalitären Diktatur, die auf Angst und Lügen basiert. Das beste Beispiel hierfür ist der russische Außenminister Lawrow. Er sagte erst vor kurzem, Russland habe die Ukraine nicht überfallen.
Der russische Journalist Igor Jakowenko verweist auf die Opferrolle, die man in Moskau zelebriert.
Dmitry Glukhovsky: Die Propaganda knüpft an die allgemeine Stimmung des Beleidigt- und Erniedrigt-Seins in Russland an. Sie fordert Revanche, indem sie erfolgreich unsere nostalgischen Gefühle an die russische Großmachtstellung und damit den düsteren imperialen Chauvinismus bedient. Nicht zum ersten Mal beginnt eine Nation einen Krieg in Europa, die sich von der Geschichte erniedrig fühlt.
"Die Elite wurde vom Beginn des Krieges genauso überrascht wie das ganze Volk", sagt der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky.
Meinen Sie Nazi-Deutschland? Der Philosoph Alexander Zipko wurde stark kritisiert, weil er den stalinistischen mit dem nationalsozialistischen Totalitarismus verglichen hat.
Dmitry Glukhovsky: Ich lege mich hier nicht fest. Aber es gibt einige Parallelen zur NS-Außenpolitik vor dem Zweiten Weltkrieg. Größere Gemeinsamkeiten gibt es in Bezug auf die Begründung, um den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Hierbei handelt es sich in Wirklichkeit um eine fundamentalistische, ultrakonservative "Blut und Boden"-Ideologie, die der Politik Hitlers sehr ähnelt. Als Vorwand dienen vermeintliche Provokationen; tatsächlich gibt es keine ernsthaften Gründe für den Angriff. Das Regime versteckt sich hinter lügnerischen Rechtfertigungen. Deshalb konstruierte es das emotionale und dem Volk bekannte Narrativ: "Wir bekämpfen den Nazismus. Bei den Anderen handelt es sich um Nazis und wir werden jetzt eine Denazifizierung durchführen."
Glaubt jemand in Russland diese Erzählung?
Dmitry Glukhovsky: Die Propaganda des Revanchismus und des Neo-Imperialismus aus dem russischen Fernsehen haben die Gehirnzellen der Menschen seit Jahrzehnten geschädigt. Die Menschen werden mit Ressentiments gefüttert, gleichzeitig machen sie tagtäglich Erfahrungen mit Erniedrigung, Ohnmacht und Unrecht. Die einfachen Leute haben keinen Ausweg, sie sind Opfer der antiwestlichen Propaganda. Das korrupte Regime lenkt die Aufmerksamkeit der Menschen nach draußen und von eigenem Fehlverhalten weg.
Gibt es eine kritisch denkende Zivilgesellschaft?
Dmitry Glukhovsky: Die Menschen, die um die Ursachen der Aggression wissen, dass Putin zuerst die Ukraine angegriffen hat und erst danach die westlichen Sanktionen folgten, haben keinen Zugang zu den Informationskanälen. Sie werden mit drakonischen Gesetzen massiv bedroht, vergleichbar nur mit stalinistischen Maßstäben. Wer sich kritisch äußert, muss 15 Jahre ins Gefängnis. Selbst "Nein zum Krieg"-Parolen in den sozialen Medien sind verboten. Wer kritisch denkt, wird blockiert, isoliert und sieht sich Repressionen ausgesetzt. Nach meinen Schätzungen haben ungefähr 200.000 Menschen Russland in den ersten anderthalb Wochen des Kriegs verlassen.
Könnte sich die Intelligenzia gegen den Krieg stellen?
Dmitry Glukhovsky: Praktisch die ganze Intelligenzia hat in den ersten Tagen Appelle gegen den Krieg unterzeichnet. Nur eine sehr geringe Zahl von Kulturschaffenden, die finanziell vom Regime abhängig sind, hat den Krieg unterstützt. Wer hinter dem neuen Eisernen Vorhang bleiben muss und Angst hat, hat ebenfalls geschwiegen. In unserer Bevölkerung gibt es keinen nationalen Konsens für den Krieg.
Ist das der Grund, warum der Kreml keine Unterstützungsdemos organisiert hat wie nach Krim-Annexion?
Dmitry Glukhovsky: Die erste Reaktion der Russen auf den russischen Angriff auf die Ukraine war Schockstarre und Erschrecken. Ich schätze, dass nur bis zu zehn Prozent der unter der staatlichen TV-Propaganda stehenden Menschen patriotische Neigungen verspürten. Die Elite wurde vom Beginn des Krieges genauso überrascht wie das ganze Volk. Es handelt sich nicht um einen Krieg Russlands, des russischen Volkes oder der politischen Klasse Russlands. Alle werden durch den Krieg in Haftung genommen und Schaden nehmen.
Mit Ihren Äußerungen haben Sie sich nach den neuen Gesetzen strafbar gemacht. Haben Sie keine Angst?
Dmitry Glukhovsky: Ich liebe Russland, es ist meine Heimat. Ich bin viel gereist und immer zurückgekehrt. Russisch ist meine Sprache, meine Luft. Meine Freunde leben in Russland. Aber wie es scheint, werde ich lange Zeit nicht nach Russland zurückkehren können. Ob ich Angst habe? Jedes Mal ist man gezwungen, sich seiner Schwächen bewusst zu werden und sich zu überwinden. Selbstverständlich wissen wir, dass die russischen Geheimdienste die Gegner und Kritiker des Regimes liquidieren.
Haben Sie Kontakte in die Ukraine?
Dmitry Glukhovsky: Ich habe sehr viele Bekannte und Freunde in der Ukraine, in Kiew, Familien mit Kindern. Daher ist dieser Krieg für mich auch sehr persönlich. Es belastet mich sehr zu sehen, wie sich meine Heimat Russland innerhalb der letzten Wochen verändert hat.
Wer ist für den Krieg verantwortlich?
Dmitry Glukhovsky: Putin persönlich. Putin schlachtet nicht nur das ukrainische Volk ab, sondern auch das russische. Er weckt die niedrigsten Gefühle des Volkes, er schneidet ihnen den Zugang zum Westen und zum Rest der Welt ab. Es ist Putins Krieg, er hat den Angriffsbefehl erteilt.
Warum hat Putin die berühmt-berüchtigte Sitzung des Sicherheitsrates im Fernsehen übertragen lassen?
Dmitry Glukhovsky: Es war wie ein Ritual. Damit wollte Putin die Verantwortung für den Krieg von sich abschieben und auf mehr Schultern verteilen. Nach dem Motto: Diese Entscheidung habe nicht ich persönlich getroffen, alle waren daran beteiligt. Damit wollte er wohl auch verhindern, dass Teile der politischen Klasse hinter seinem Rücken separate Vereinbarungen treffen. Denn alle sind Mittäter. Zuerst wurde Putins engster Kreis involviert, danach wurden die Abgeordneten und die Senatoren der Staatsduma aufgefordert, seine Politik einstimmig zu unterstützen. Damit hat Putin auch alle Parlamentarier zu Mittätern gemacht.
Schließen Sie aus, dass sich der Machtapparat aus dem Inneren heraus reformieren kann? In Ihrem Roman "Der Posten" ist der nächste Messias eine einfache Frau.
Dmitry Glukhovsky: Der Reformer kommt nicht aus dem Kreml. In Russland gibt es nur einen Menschen, der nach den Maßstäben der antiken Mythologie handelt: Alexej Nawalny. Er hat wortwörtlich den Drachen herausgefordert. Er wurde getötet, ist wiederauferstanden, zurückgekehrt, setzte sich der Rache des Drachen aus und wurde festgenommen.
Was hat Sie inspiriert, in ihren Romanen die Zukunft Russlands in so düsteren Farben zu skizzieren?
Dmitry Glukhovsky: Ich überspitze die reale Entwicklung, schildere das Groteske und zeige den Menschen, was auf sie zukommt, wenn sich nichts ändert. Natürlich glaube ich nicht daran, dass dieses Drehbuch Wirklichkeit wird, denn ich treibe die Erzählung absichtlich bis zum Absurden. Allerdings musste ich feststellen, dass viel zu viel aus meinen Settings und Ideen mit erstaunlicher Genauigkeit eingetreten ist, obwohl die Geschichten metaphorisch und übertrieben waren. Unabhängig davon, ob es sich dabei um die künftige Entwicklung Russlands handelt oder um den Krieg gegen die Ukraine.
Die "Novaja gazeta" titelte bei Kriegsausbruch mit "Metro-2022" in Anspielung auf einen ihrer Romane und zeigte Menschen in der Kiewer U-Bahn.
Dmitry Glukhovsky: In meinen Roman "Metro-2033" überleben die Menschen den nuklearen Weltkrieg in den U-Bahn-Stationen und den Tunneln der Moskauer Metro. Heute schicken mir meine Leser aus der Ukraine Postings und Fotos, wie sie in Charkiw durch die U-Bahn-Tunnel zu einem Bahnhof gehen, um so den Bombardierungen zu entgehen. Sie wohnen in U-Bahn-Waggons, die in Wohnungen umgebaut werden, wie in meinem Roman. Es ist schrecklich und ich bin nicht begeistert, dass ich diese Entwicklung vorhergesehen habe. Ich wollte ja das Gegenteil erreichen, dass die Menschen meine Bücher lesen und eine solche Zukunft auf keinen Fall zulassen.
In ihrem Roman "Outpost. Der Posten" wird die russische Sprache als Massenvernichtungswaffe eingesetzt. Wie kamen Sie dazu?
Dmitry Glukhovsky: Die Idee ist doch naheliegend. Nach der Krim-Eroberung wurde mir die Verwundbarkeit des Volkes durch die giftigen Worte der Propaganda besonders bewusst. Es war so klar, wie die Sprache instrumentalisiert wurde. Bei diesem Roman handelte es sich nicht um eine Prognose, sondern um die Beschreibung der Wirklichkeit. In "Der Posten" setzen die Machthaber die Sprache als Waffe ein, aber am Ende wendet sich die ausgelöste Seuche gegen diejenigen, die sie eingesetzt haben..
Dmitry Glukhovsky:
Outpost.
Der Posten. Roman.
Heyne Verlag,
München 2021;
416 S., 20,00 €
Gibt es im heutigen Russland noch die traditionell starke Bindung zwischen Volk und Literatur?
Dmitry Glukhovsky: Heute ist die Literatur viel weniger einflussreich als früher. Das liegt auch daran, dass die Sowjetunion die Literatur propagandistisch instrumentalisiert hat. Heute dominieren Kino und Fernsehen die Meinungsbildung der Menschen, die Literatur wird an den Rand gedrängt. Die Literatur kann einige hunderttausend Menschen erreichen, nicht aber Millionen, wie die täglichen Propaganda-Shows im Fernsehen.
Neben ihren Zukunftsromanen haben Sie auch ein Theaterstück über den Holocaust geschrieben. Warum?
Dmitry Glukhovsky: Der Holocaust hat mich immer interessiert, mein Vater ist Jude und ich habe an der Jerusalemer Universität studiert. Und das, obwohl man mir ziemlich spät gesagt hat, dass ich Jude bin und ich mich in der Sowjetunion nicht als Jude gefühlt habe. Ich wollte meine Wurzeln erforschen. Mein Theaterstück ist noch nicht veröffentlicht; es heißt "Eine Nacht von Josef K." und handelt von der Tragödie des Lodzer Ghettos während des Holocaust.
In Ihrem Weihnachtsmärchen "Reforma" aus dem Jahr 2021 sammelt der russische Staat die Uhren der Bevölkerung ein und verbietet die Zeitangaben.
Dmitry Glukhovsky: Die russische politische Elite und Putin erwähnen sehr oft die Vergangenheit, insbesondere das 19. Jahrhundert und Zar Nikolaus, dessen Epoche sie zu ihrem Ideal erklären. Damals gab es den Adel und die Monarchie als Herrschaftssystem mit seinen ultra-konservativen Werten, insbesondere Religion und Patriarchat. Dieses Bündnis von Thron und Altar will Putin der russischen Gesellschaft aufzwingen. Dabei wollen die Menschen ein ganz anderes Leben führen. Mit meiner Novelle will ich darauf hinweisen, dass der Kreml versucht, die Zeit anzuhalten und die Entwicklung zurückzudrehen. Die wahre, moderne, lebendige russische Kultur hat nichts mit dem staubigen, düsteren und erstickenden offiziellen Image zu tun. Wir erleben gerade eine Tragödie: Meine Heimat wird gewaltsam in die Isolation getrieben, von der Entwicklung der Welt abgeschnitten. Putin will Russland ins Archaische zwingen und einsperren. Er führt das Land in eine düstere Vergangenheit mit massenhafter Armut und Unfreiheit.
Dmitry Glukhovsky:
Metro.
Die Trilogie.
Heyne Verlag,
München 2019;
1.616 S., 35,00 €
Am 8. März zitierte Präsident Putin Katharina II.: "Ich werde meine Heimat mit dem Schwert und der Sprache verteidigen, solange ich lebe."
Dmitry Glukhovsky: Die Machthaber selbst sind überhaupt nicht bereit, für Russland zu sterben. Die Reaktionären klammern sich an die Macht, dafür treiben sie die Jungen in den Fleischwolf des Krieges, um ihre Herrschaft mit deren Blutzoll zu sichern. Vergleichen Sie Putin und Selenskyj - Putin hält sich von den Menschen fern, er lebt weit von den Gefahren wie der unsterbliche Kaschej, der Bösewicht aus den russischen Märchen. Dagegen ist Selenskyj in Kiew, er versucht den Menschen nahe zu sein. Gejagt wird er von Tschetschenen und der privaten Söldnertruppe "Wagner".
Wie bewerten Sie die Kursänderung der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland?
Dmitry Glukhovsky: Amerika ist weit weg. Europa musste sich zusammenschließen. Ich hoffe, dass die Deutschen ihr historisches Gedächtnis besser hüten und bewahren als wir in Russland. Europa muss angesichts der russischen Bedrohung zusammenrücken. Schwäche kann sich Europa heute nicht mehr leisten. Aber noch einmal - Putin ist nicht Russland.
Ist das Ende des Putin-Regimes absehbar?
Dmitry Glukhovsky: Ich bin da pessimistisch. Solange Putin diese Welt nicht ins Jenseits verlässt, werden wir keine Veränderungen in Russland erleben.