Geschichte : Es war nicht alles gut in der DDR
Mit ihrem Buch "Diesseits der Mauer" will Katja Hoyer ostdeutsche Biografien sichtbarer machen.
Eine "neue Geschichte der DDR" verspricht der Untertitel, für den Verlag ist es gar ein "bahnbrechender neuer Blick" auf das Leben in dem 1990 untergegangenen Land. Die am King's College London forschende Historikerin Katja Hoyer stört sich daran, dass der Fokus auf SED-Unrecht, Mauer und Stasi ostdeutschen Biografien nicht gerecht werde: Mit ihrem Buch "Diesseits der Mauer" will sie einen Beitrag dazu leisten, dass ostdeutsche Lebensgeschichten nicht mehr "als eine Art Leiche im nationalen Keller behandelt" werden. Sie lässt eine Vielzahl von Zeitzeugen aus der DDR und Stimmen aus Tagebüchern und Memorien zu Wort kommen und bettet diese in eine chronologische Darstellung der Geschichte des Arbeiter- und Bauernstaates ein. Wer sich für einen gut lesbaren Überblick interessiert, liegt mit dem Buch der 1985 in Guben geborenen Autorin gewiss nicht falsch. Wer sich die Abgründe begreiflich machen will, für die dieses Kapitel deutscher Geschichte eben auch steht, für den lohnt sich die Lektüre weniger.
Zentral für Hoyer: Die Darstellung sozialer Mobilität
Großen Wert legt die Autorin auf die Darstellung sozialer Mobilität, die sie am Beispiel einer Vielzahl von Biografien schildert: Für Arbeiter, insbesondere auch für Frauen hätte es bisher ungeahnte Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten gegeben. In den 1980er Jahren stieg die DDR zum Land mit der höchsten Frauenerwerbsquote der Welt auf. "Frauen drangen bis in die letzten Bastionen ehemals reiner Männerdomänen vor", schreibt die Autorin und schildert etwa den Werdegang der ersten weiblichen NVA-Offiziere. Ein Blick auf die Zusammensetzung des Politbüros, des Machtzentrums des SED-Staates, zeigt freilich etwas anderes: In all den Jahren schafften es dorthin gerade einmal vier Frauen, und das nicht einmal als stimmberechtigte Mitglieder.
Dass die Durchlässigkeit "diesseits der Mauer" schroff an der Hinterlandmauer endete, hinter der "Republikflüchtige" Schäferhunde und "Selbstschussanlagen" erwarteten, verschweigt die Autorin nicht. Sie beschreibt den Bau dieser Mauer andererseits als "drastische Maßnahme", zu der die DDR-Führung unter den Bedingungen der Blockkonfrontation gezwungen gewesen sei, sollte das Land mit seinem Aderlass von Fachkräften nicht ausbluten. Und die Allgegenwart der Überwachung, das zwanghafte Kontrollbedürfnis der Stasi, das Faible der Führung für Stechschritt, Fackelzüge und militärische Formationen aller Art bereits für die Jüngsten? Die DDR entwickelte sich laut Hoyer zu einem der "effizientesten und rücksichtlosesten Polizeistaaten" der Geschichte. An anderer Stelle führt sie das auf die Marotten einer Führung zurück, die von den Kämpfen der Weimarer Zeit, von NS-Verfolgung und Stalin-Terror geprägt war und offenbar nicht anders konnte, als an alten Mustern festzuhalten. Mit keinem Wort geht die Autorin auf die berüchtigten "Jugendwerkhöfe" ein. Und das ist bezeichnend. Dort nämlich wäre zu zeigen, zu welchen Mitteln der sozialistische, sich laut Verfassung dem "Humanismus" verpflichtete Staat griff, wenn sich der neue Mensch nicht so anstellte wie vorgesehen: Dann wurde das Zuckerbrot schnell beiseite gelegt, wurden junge Menschen mit Zucht und Drill gebrochen, sollte Gesellschaft mit Gewalt "repariert" werden.
Neuer, differenzierter Blick auf Prägungen und Lebensleistungen in Ostdeutschland
Vieles spricht dafür, nach mehr als drei Jahrzehnten nach dem Ende der DDR einen neuen, differenzierten Blick auf Prägungen und Lebensleistungen in Ostdeutschland zu werfen. Die Debatten, die Hoyers DDR-Geschichte und übrigens auch Dirk Oschmanns Buch "Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung" ausgelöst haben, zeigen weiter anhaltenden Redebedarf. Wenn man diese neue Bewertung ausdrücklich einfordert, wie es Hoyer tut, gehört dazu ein Resümee zum Stand der Forschung. Das sucht man in "Diesseits der Mauer" aber vergebens, ebenso wie eine Reflexion über Grenzen und Möglichkeiten einer "oral history", auf die sich das Buch ja wesentlich stützt.
Hoyer sucht Blickschärfung, indem sie Fortschrittliches hervorhebt, gerade im Kontrast zur Bundesrepublik, und die Leistungen der Ostdeutschen betont. Das klingt dann zuweilen wie eine Verteidigung Spartas gegenüber Athen. Sie zeichnet die DDR nach dem Mauerbau als ein aufstrebendes und seinen Platz in der Staatenwelt findendes Land, das Gemeinwohl vor Einzelinteressen stellte, in dem Bildung und Gesundheitsversorgung kostenlos und die Mieten niedrig waren, und der Alltag mitnichten nur aus Stasi und Stacheldraht bestand. All das ist nicht falsch. Aber das Buch verwischt, dass das eine ohne das andere nicht zu haben war. Der Staatssozialismus verstand sich darauf, über längere Strecken auch Legitimation zu verschaffen. Aber ohne Primat der Partei, ohne Mauer und MfS, wäre die SED-Herrschaft wohl nie überlebensfähig gewesen. "Ich fühle mich in Grenzen wohl", dichtete der Ost-Berliner Literatur-Untergrund in den 1980er Jahren.
Mit ihrem Ansatz gerät Hoyer in Gefahr, der "heilen Welt der Diktatur" auf den Leim zu gehen, die der Historiker Stefan Wolle beschrieben hat: Seine Erkenntnis ist, dass an den berühmten "Nischen" im SED-Staat so gut wie gar nichts heil war, zwischen dem behüteten Leben in der DDR und fortwährender Bevormundung und Unfreiheit ein logischer Zusammenhang bestand. Solche Bereitschaft zum dialektischen Blick findet sich bei Hoyer kaum. Und deshalb könnte man das Fazit zu ihrem Buch auch so zusammenfassen: Nein, es war nicht alles gut in der DDR.
Katja Hoyer:
Diesseits der Mauer.
Eine neue Geschichte der DDR 1949 - 1990.
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2023;
592 Seiten, 28,00 €