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Serhii Plokhy im Interview : "Keine Verhandlungen über Gebietsabtretungen an Russland"

Der Historiker ist sich sicher, dass Kiew mit Moskau nicht über territoriale Zugeständnisse verhandeln wird. Dies wäre das politische Ende von Präsident Selenskyj.

04.10.2022
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7 Min

Herr Plokhy, warum bezeichnen Sie die Ukraine als das Tor Europas?

Serhii Plokhy: Dafür gibt es zwei Gründe. Zum einen die Geografie: Die Ukraine liegt im Westen der Eurasischen Steppe, die von der Mandschurei bis zu den Karpaten reicht. Hier, zwischen der Großen Steppe und dem Westen, wurden wichtige militärisch-politische Konflikte ausgetragen. Der andere Grund betrifft die Kultur. In der Ukraine verläuft die Grenze zwischen dem westlichen und dem östlichen Christentum. Die Ukraine versuchte, die Konflikte mit hybriden Modellen zu entschärfen. Dazu gehörte die Gründung der Unierten Kirche.

Jetzt kommt eine politische Grenze zwischen einem demokratischen und einem autoritären System hinzu?

Serhii Plokhy: Ja, diese Grenze stimmt mit der Grenze der Europäischen Union und der Nato überein. Der aktuelle Krieg zeigt, dass die unabhängige Ukraine nicht mehr Grenz- oder Zwischenland ist, sondern ein Staat, der sich auf der anderen Seite der Grenze zu Russland befindet. Die Ukraine hat sich für den Weg der Demokratie entschieden, während in der von Russland geführten Euroasiatischen Union der Autoritarismus dominiert.

Foto: picture-alliance/picturedesk/Christine Tschavoll
Serhii Plokhy
ist Direktor des Harvard Ukrainian Research Institute an der Harvard Universität. Plokhy wurde 1957 im russischen Gorki (heute Nischnij Nowgorod) geboren und beendete 1980 sein Geschichtsstudium als Diplom-Historiker in Dnipro (Ukraine). 1990 promovierte er an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Er ist Autor zahlreicher Bücher zur osteuropäischen Geschichte, darunter „The Last Empire. The Final Days of the Soviet Union“, für das er den Lionel-Gelber-Preis erhielt, und „Chernobyl. History of a Tragedy“, das mit dem Baillie-Gifford-Preis ausgezeichnet wurde.
Foto: picture-alliance/picturedesk/Christine Tschavoll

Warum vertrat der selbsternannte "Historiker" Wladimir Putin plötzlich die These, Ukrainer und Russen seien ein Volk?

Serhii Plokhy: Es handelt sich um eine außergewöhnlich radikale Erklärung, die zugleich unangemessen und dumm ist. Vor allem wenn man bedenkt, zu welcher Tragödie diese Politik geführt hat. Als der KGB mit Putin an die Macht kam, verankerten sie ihre Ideologie in den gescheiterten imperialen Projekten der Vergangenheit. Dazu gehört die Bildung einer einheitlichen russischen Nation, die aus drei Teilen bestand: den Großrussen, den Kleinrussen und den Weißrussen. Putin steigerte diese Erzählung ins Absurde und beschloss, seine konservative Utopie zu realisieren.

Warum gab sich Putin 2014 mit der Annexion der Krim und der Eroberung eines Teils des Donbass zufrieden?

Serhii Plokhy: Die Minsker Vereinbarungen von 2015 waren ein Schritt in Richtung Föderalisierung der Ukraine. In der Folgezeit sollte der Donbass die Westpolitik Kiews stoppen. Die Hoffnung war, dass die Wahl von Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten den russischen Plänen entgegenkommen würde. Putin hatte zunächst vorgehabt, die Ukraine durch eine Änderung der Verfassung zu unterwerfen.

Und das klappte nicht...

Serhii Plokhy: Genau. Der "nette" Selenskyj erwies sich als besonders talentierter Politiker und änderte ungeachtet des Drucks aus Moskau die Verfassung nicht. Damals verstand Putin, dass es keinen Sinn hatte, seine Ziele weiter auf politischem Wege zu verfolgen und griff wieder zu den Waffen.

Der russische Publizist Alexander Zipko meint, erst nach der Annexion der Krim 2014 habe sich die ukrainische Nation konsolidiert.

Serhii Plokhy: Zusätzlich zum Schock der Krim-Eroberung kamen der über viele Jahre geführte hybride Krieg und die bis zu 15.000 Toten des Donbass-Krieges. Dass Russen Ukrainer töteten, erschien vielen als ein surreales Szenario. Die politische Karte der Ukraine und das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger beweist jedoch, dass sich das Volk seitdem umorientierte: Bis 2014 konnte man in der Mitte des Landes eine Linie ziehen - die Politiker gewannen je nach Abstammung im Westen der Ukraine oder im russisch-sprachigen Osten. Bei der Wahl Poroschenkos im Jahr 2014 und vor allem bei der Wahl Selenskyjs 2019 gab es in der Ukraine jedoch keine innere Grenze mehr zwischen West- und Ostukraine, also zwischen der rein ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung. Die Ukraine des Jahres 2022 ist nicht mehr dieselbe wie 2014. Diese Zeit nutzte das Land zum Aufbau einer starken Armee und, was noch wichtiger ist, es bildete sich ein gemeinsames nationales Bewusstsein heraus.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die Entstehung einer ukrainischen Nation. Steht Präsident Selenskyj exemplarisch für den Prozess der Nationenbildung? Obwohl er russischsprachig ist? Und obwohl er weder katholisch, uniert oder orthodox ist, sondern ein jüdischer Ukrainer?

Serhii Plokhy: Der Prozess der "Ukrainisierung" begann bereits unter dem zweiten Präsidenten, Leonid Kutschma. Er hatte auf Russisch das Buch "Die Ukraine ist nicht Russland" veröffentlicht. Kutschma stammte aus der russischsprachigen Ostukraine und war ein Vertreter des sowjetischen militärindustriellen Komplexes. Aber Ja. Die Person Selenskyj stellt den Höhepunkt der Identitätsbildung der Ukrainer dar. Auch sein schauspielerisches Talent konnte er erfolgreich in der Politik einsetzen.

Kann man ihn mit Ronald Reagan vergleichen?

Serhii Plokhy: In dem Sinne, dass Reagan ein Kommunikator und Multiplikator war. Zu Selenskyjs Charakter gehört sein exzellentes Gespür für sein Publikum. Er weiß, was die Leute hören wollen. Er ist eine Art Verstärker der in der Gesellschaft vorhandenen Konzepte und Wünsche. Bis zum 24. Februar stand er für den wichtigsten Wunsch der ukrainischen Gesellschaft: Einen großen Krieg zu verhindern. Als der Krieg begann, verteidigten die Menschen ihre Freiheit. Die Umfragen in der Ukraine während der schweren Tage nach dem Angriff im Februar zeigen, dass mehr als 75 Prozent der Ukrainer glaubten, sie würden den Krieg gewinnen. Selenskyjs Standhaftigkeit hat dazu beigetragen.

Wäre bei einem anderen Präsidenten das Volk nicht so patriotisch gestimmt?

Serhii Plokhy: Da bin ich mir nicht sicher. Wie dem auch sei: Der militärische Widerstand gegen die Aggression hätte die patriotischen Gefühle auch unter einem anderen Präsidenten gestärkt. Die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft ist bereit, für ihre Freiheit und ihre Heimat zu kämpfen.


„Putins Hauptziel, die Liquidierung der Ukraine als Staat, die Gründung eines ,Groß-Russland‘, ist gescheitert. Für immer.“

Welche Rolle spielten die Waffenlieferungen des Westens?

Serhii Plokhy: Zunächst spielten sie kaum eine Rolle. In den ersten beiden Monaten wurde der russische Angriff noch aus den vorhandenen sowjetischen Beständen gestoppt. Das andere waren die Menschen, die standhaft blieben.

Wie wird der vielbeschworene Sieg der Ukraine in diesem Krieg aussehen?

Serhii Plokhy: Dass die Ukraine bereits gesiegt hat, war mir vier Tage nach Kriegsbeginn klar. Das Land zerfiel nicht, wie es nicht nur der Kreml erwartet hatte. Putins Hauptziel, die Liquidierung der Ukraine als Staat, die Gründung eines "Groß-Russland", ist gescheitert. Für immer.

Glauben Sie an Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau?

Serhii Plokhy: Ich bin absolut sicher, dass es keine Verhandlungen über Gebietsabtretungen an Russland geben wird. Selenskyj würde sofort vom Volk abgesetzt, wenn er sich auf einen solchen Schritt einlassen würde.

Wie bewerten Sie die Rolle des umstrittenen ukrainischen Protagonisten Stefan Bandera, der 1959 in München vom KGB ermordet wurde?

Serhii Plokhy: Als Historiker bin ich der Meinung, dass Diskussionen über Bandera zu 99 Prozent von Menschen geführt werden, die von der Geschichte keine Ahnung haben. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Mythos Bandera und der realen Figur. Alles, was in der Ukraine zwischen 1941 und Anfang 1945 passierte, hat mit Bandera persönlich nichts zu tun. Nach 1945 blieb er in Deutschland, während der Partisanenkrieg in der sowjetischen Ukraine ohne ihn weiterging. Zwischen 1941 und 1959 war Bandera nur ein zweitrangiger Exilpolitiker am Rande des Geschehens. Weil er sich weigerte, auf die Unabhängigkeit der Ukraine zu verzichten, kam er 1941 ins KZ. Dies trug ihm einen Heiligenschein ein.

Bandera hat die Ermordung friedlicher Menschen durch die ukrainischen Nationalisten nicht verurteilt.

Serhii Plokhy: Stimmt. Bandera war ein diszipliniertes Mitglied der Organisation und trägt dafür die Verantwortung. Aber in der Ukraine selbst trugen andere Menschen dafür die Verantwortung, nicht Bandera persönlich. Ich trenne hier Bandera und die ukrainische Nationalbewegung, um zu zeigen, dass vieles, was ihm zugeschrieben wird, ein Mythos ist; quasi Widerstands-Folklore mit dem Märtyrer Bandera als Protagonist der Unabhängigkeit. Übrigens ist im ukrainischen Parlament seit 2014 keine nationalistische oder rechte Partei vertreten. Sehr wohl aber in Italien, Frankreich und Deutschland. Alle reden über Bandera, dabei sind seine Positionen in der ukrainischen Politik und vor allem in der Rada nicht vertreten.

Wie bewerten Sie die Politik Deutschlands nach dem 24. Februar?

Serhii Plokhy: Historische, psychologische und ökonomische Gründe erklären die deutsche Duldungspolitik gegenüber Russland nach 2014. Das Mantra "Wandel durch Handel" lag den Beziehungen zugrunde, außerdem persönliche Connections. Wegen der Gaslieferungen schloss man die Augen vor der russischen Aggression in Georgien und auf der Krim. Im besten Fall war es ein Zeichen von Naivität, im schlimmsten Fall von Zynismus. Kurzum: Diese Politik Deutschlands hat zweifellos einen vollständigen Bankrott erlebt.

Ist dies Ihr Blick aus Havard oder denken die Menschen in der Ukraine auch so?

Serhii Plokhy: Sie sind sehr enttäuscht. Aber dazu kommt: Sie blicken mit Häme auf die Politik von Scholz, der immerzu verspricht, aber nichts gibt.

Befürchten Sie die Eskalation zum Nuklearkrieg?

Serhii Plokhy: Im nuklearen Zeitalter ist das möglich. Aber ich glaube nicht, dass es zum Einsatz von Atomwaffen kommen wird. Tatsächlich hat der Krieg bereits eine nukleare Dimension erreicht mit der Besetzung der ukrainischen Atomkraftwerke.

Sind Sie von den russischen Liberalen enttäuscht, die das Land verlassen haben?

Serhii Plokhy: Nein. Im Februar und März 2022 fand der größte Exodus der liberalen Intelligenz aus Russland seit dem Oktober 1917 statt. Wir haben gesehen, dass sehr viele Menschen mit diesem Krieg nicht einverstanden sind.


Serhii Plokhy:
Das Tor Europas.
Die Geschichte der Ukraine.
Hoffmann und Campe,
Hamburg 2022;
557 S., 30,00 €


Aber diese Minderheit vermag nichts gegen den Krieg auszurichten?

Serhii Plokhy: Absolut nichts. Ich habe das auch nicht erwartet. Aber dass es diese Menschen gibt, ist wichtig. Ihre Zeit wird kommen, das ist sicher. Dass sie nichts gegen Putins Regime erreichen können, ist das Schicksal der russischen Intelligenz - wie übrigens seit Jahrhunderten.

Wie beurteilen Sie Spekulationen über einen möglichen Zerfall Russlands?

Serhii Plokhy: Als einzige politische Ideologie, als stärkste Kraft, die das Land zusammenhält, bleibt der russische Nationalismus übrig. Die Anführer der gegenwärtigen oppositionellen Bewegungen sind keine Liberalen; auch ein charismatischer Anführer wie Nawalny ist eher ein Nationalist als ein Liberaler.

Wie geht dieser Krieg für Russland aus?

Serhii Plokhy: Es wird zu Umgestaltungen und Reformen kommen, aber ohne Putin. Ich sehe keine Fortsetzung der Putin'schen Politik ohne Putin. Seine Politik schadet Russland so sehr, dass sie kein Präsident nach ihm fortsetzen kann. Es sei denn, es bleibt beim gegenwärtigen totalitären Regime. Aber ob dies geschieht, ist durchaus fraglich.