Rezension zu "Im Namen der Deutschen" : Mangelnde Selbstkritik
Der Historiker Norbert Frei untersucht den Umgang der ersten deutschen Staatsoberhäupter mit der NS-Vergangenheit und ihren eigenen Biografien.
Das Amt des Bundespräsidenten gewährt dem Inhaber nur wenig Macht. Der Parlamentarische Rat zog 1949 bei der Formulierung des Grundgesetzes die richtigen Lehren aus dem Untergang der Weimarer Republik. Eine wichtige Funktion des Bundespräsidenten ist die Repräsentation der Bundesrepublik nach innen und außen. Durch Auftritte, Reden und Reisen wirkt das Staatsoberhaupt politisch. Das tatsächliche politische Gewicht eines Bundespräsidenten hängt davon ab, wie sehr er es vermag, Themen zu besetzen und den richtigen Ton zu treffen. Gerade die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands war und bleibt ein Bewährungsfeld für die Bundespräsidenten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (links) und der Historiker Norbert Frei bei der Präsentation dessen Buches am 10. Oktober im Schloss Bellevue.
Alle sind mit dem Nationalsozialismus in Berührung gekommen
In einer von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier initiierten Studie geht der renommierte Historiker Norbert Frei der Frage nach, inwieweit die Bundespräsidenten bis 1994 sich in ihrem Handeln mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Frei zeigt, dass sie alle mit dem Nationalsozialismus in Berührung gekommen waren: Theodor Heuss (FDP) hatte als liberaler Reichstagsabgeordneter am 23. März 1933 dem berüchtigten Ermächtigungsgesetz zugestimmt, sein Nachfolger Heinrich Lübke (CDU) hatte - was Frei leider nicht erwähnt - für das entsprechende preußische Ermächtigungsgesetz vom 1. Juni 1933 votiert.
Lübke gehörte ebenso wie Gustav Heinemann (SPD) zu den wirtschaftlichen Funktionseliten des "Dritten Reiches", auch wenn beide keine "Parteigenossen" waren. Walter Scheel (FDP) und Karl Carstens (CDU), beide waren Mitglieder NSDAP, sowie Richard von Weizsäcker (CDU) nahmen als Soldaten am Zweiten Weltkrieg teil. Weizsäckers Vater Ernst, welcher der SS angehört hatte, wurde als ehemaliger Staatssekretär im Auswärtigen Amt im "Wilhelmstraßenprozess" wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit 1949 zu einer Haftstrafe verurteilt.
Umgang mit der eigenen Biografie entsprechend des Verhaltens vieler Deutscher
Doch trotz der zum Teil starken eigenen Verstrickung spielte die eigene - gar selbstkritische - Zeitzeugenschaft in den öffentlichen Äußerungen der ersten sechs Bundespräsidenten, wenn überhaupt, allenfalls eine geringe Rolle, wie Frei darlegt. Nur wenn - wie im Falle Lübkes, Scheels oder Carstens' - die Vergangenheit aus der Gesellschaft heraus thematisiert wurde, mussten sie sich äußern. Der Umgang mit der eigenen Biografie entsprach dem Verhalten vieler Deutscher: Die Schuld an den NS-Verbrechen wurde gerade in den ersten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik zumeist der Führung um Adolf Hitler zugeschrieben und nicht auch den Hunderttausenden, welche im Glauben an ihren "Führer" und den Nationalsozialismus unmenschlich handelten.
Viel Selbstkritik verlangten die Bundespräsidenten dem von ihnen repräsentierten Volk nicht ab. Der Einsatz für die Freilassung verurteilter Kriegsverbrecher aus alliierter oder ausländischer Gefangenschaft - in der Regel auf Betreiben alter Gesinnungsgenossen, wie Frei berichtet - gehört zu den unrühmlichen Geschichten des Amtes. Auch manche Ordensverleihung zählt zu den fragwürdigen Vorgängen. Dabei war das Personal des Bundespräsidialamtes, das Frei ebenfalls betrachtet, keineswegs überproportional mit ehemaligen NS-Beamten oder NSDAP-Mitgliedern besetzt. Die Situation stellte sich dar wie in anderen Bundesbehörden auch. Vielmehr prägte der verdrängende oder beschönigende Zeitgeist offenkundig auch die Dienstgeschäfte jedenfalls der ersten fünf Bundespräsidenten und ihrer Behörde.
Heuss: Marksteine für die Erinnerung
Im Positiven prägte der erste Bundespräsident das Amtsverständnis auch für seine Nachfolger: Theodor Heuss setzte wichtige Impulse für den Umgang mit der NS-Vergangenheit, die zu Beginn seiner Amtszeit ja gerade einmal vier Jahre zurücklag. Mit wichtigen Reden ordnete er die jüngere Vergangenheit ein und setzte Marksteine für die Erinnerung, vor allem bei der Einweihung der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen (1952) und zum 10. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats auf Hitler (1954). Heuss wies wie seine Nachfolger eine deutsche Kollektivschuld an den Verbrechen des "Dritten Reiches" zurück, hielt aber eine "Kollektivscham" und gemeinsame Verantwortung der Deutschen für geboten. Die Nachfolger Lübke, Heinemann, Scheel und Carstens folgten - so Freis Analyse - im Prinzip dem von Heuss vorgezeichneten Weg.
Richard von Weizsäcker wertete in seiner berühmt gewordenen Rede am 8. Mai 1985 das Kriegsende als Befreiung. Norbert Frei würdigt diese Rede ausführlich und durchaus kritisch. Er zeigt, dass Weizsäckers Ausführungen inhaltlich nicht bahnbrechend waren, sondern dem geschichtswissenschaftlichen Common Sense entsprachen. Frei verweist auch auf eine sehr ähnliche Rede des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (CDU) kurz zuvor.
Bahnbrechend waren hingegen die in- und ausländischen Reaktionen auf "die Rede", wie sie bald genannt wurde. Die vielfache Rezeption trug sicherlich dazu bei, dass sich in breiten Gesellschaftskreisen die zutreffende Sicht durchsetzte, dass das Kriegsende nicht allein als Niederlage, sondern auch als Befreiung und Voraussetzung für die demokratische Entwicklung Deutschlands anzusehen ist.
Norbert Frei:
Im Namen der Deutschen.
Die Bundespräsidenten und die NS-Vergangenheit.
C.H.Beck,
München 2023;
377 Seiten, 28,00 €