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Rezension: Uwe Wittstocks "Marseille 1940" : Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit

Uwe Wittstock folgt den Spuren der Schriftsteller, Künstler, Intellektuellen auf der Flucht vor den Nazis - und huldigt ihre Helfer.

14.03.2024
True 2024-10-29T10:18:25.3600Z
4 Min

Als im Mai 1940 Hitlers Truppen in Frankreich einmarschieren, beginnt, was der Literaturkritiker Uwe Wittstock "die vielleicht gewaltigste Fluchtbewegung" nennt, "die Europa jemals in einem so kurzen Zeitraum erlebt hat". Acht bis zehn Millionen Menschen sahen sich durch den Feldzug der Wehrmacht zur Flucht gezwungen. Unter ihnen sind Hunderte Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle aus Deutschland und Österreich., die schon nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 emigriert waren.

Das Drama der zweiten Flucht

Für sie wurde das Exil zur lebensgefährlichen Falle, als die Deutschen Paris im Handstreich eroberten. Als dann auch noch die Vichy-Regierung unter Marschall Petain einen Waffenstillstand mit den Nazis aushandelte und sich verpflichtete, die Exilanten an die Gestapo auszuliefern, mussten sie das Schlimmste fürchten. Sie flohen aus dem besetzten in den unbesetzten Teil Frankreichs, vorrangig nach Marseille, um von hier aus sichereres Ausland zu erreichen.

Vom Drama dieser zweiten Flucht berichtet Uwe Wittstocks mitreißendes, unerhört detailreiches und bei aller nüchternen Sachlichkeit im Ton mitfühlendes Buch "Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur".

Foto: picture alliance/United Archives | 90061

Uwe Wittstocks Buch ist eine Hommage an Fluchthilfe-Organisator Varian Fry, hier mit den Exilanten Andre Breton, Jacques Lipschitz und Jacqueline Breton (von rechts nach links).

Kuriose, erschütternde, bittere Schicksale

Atemlos folgt man den Spuren von Hannah Arendt, Anna Seghers, Heinrich Mann, Franz Werfel, Walter Mehring und zahllosen anderen, die um ihr Überleben kämpften. Manche Geschichten sind kurios, wie Anna-Mahler-Werfels anhaltende Sorge um den Verbleib ihrer zwölf Koffer; manche sind erschütternd, wie der Suizid Walter Benjamins in den Pyrenäen. Andere sind bitter wie Anna Seghers' Geschichte, die mit ihren Kindern zu Fuß aus Paris fliehen, aber auf keine Ausreise in die USA hoffen kann, weil die Mitgliedern der Kommunistischen Partei keine Visa erteilt. Und dann wieder geschieht Unglaubliches, wie Lion Feuchtwangers "Entführung" aus dem Internierungslager, "Les Milles", der danach in der Villa des amerikanischen Vizekonsuls in Marseille, Hiram Bingham, Unterschlupf fand.

Dass sich das lesend zuweilen anfühlt als sei man dabei, so detailreich sind Wittstocks Berichte, so anschaulich, so farbig, so nah am Fühlen und Denken der Protagonisten, ihren Ängsten, Hoffnungen und Plänen - das, liegt an den Quellen, derer sich Wittstock bedient: Briefen und Tagebüchern, Erinnerungen, Autobiographien und Interviews der Protagonisten.


„Man kann Fry einen Helden nennen, der sich für andere aufopferte, um zu helfen. Er verdiente kein Geld damit, machte sich viele Feinde durch seine Arbeit.“
Autor Uwe Wittstock

Die Menschen auf der Flucht sind das eine Thema des Buchs. Das andere sind deren Helfer. "Eine Gruppe erstaunlicher Menschen, die unter erheblichen Gefahren versuchten, so viele Exilanten wie möglich zu retten", schreibt Wittstock. Im Zentrum steht dabei eine Gruppe um den Amerikaner Varian Fry. "Man kann Fry einen Helden nennen, der sich für andere aufopferte, um zu helfen. Er verdiente kein Geld damit, machte sich viele Feinde durch seine Arbeit", sagte Wittstock in einem Interview, in dem er wie im Buch aber deutlich macht, dass die Fluchthilfe keineswegs die Aktion eines Einzelnen, sondern vieler uneigennütziger, mutiger Menschen war. Im Kampf gegen das Totalitäre - und gegen eine unerträglich menschenunfreundliche Bürokratie.

Reise nach Marseille: Die Umsetzung des Rettungsplans

Um Europa zu verlassen, brauchten die Verfolgten jede Menge Papiere. Ausreise-, Einreise- und Transit-Visa. Und sie brauchten Geld, für Unterkünfte, Essen, Trinken, eine Schiffspassage. Vielen fehlte es an beidem. Manchen konnte der gelernte Journalist und enthusiastische Bewunderer der europäischen Kunst und Kultur-Szene Varian Fry helfen. Dabei durfte er sich zwar der Sympathie der First Lady Eleanor Roosevelt sicher sein. Ihr Mann aber, Präsident Franklin D. Roosevelt, und das US-Außenministerium machten ihm das Leben eher schwer: Die USA wollten vermeiden in Europas Krieg hineingezogen zu werden und hatten kein Interesse daran, politisch aktive, von den Nazis verfolgte Schriftsteller nach Amerika zu holen.


Uwe Wittstock:
Marseille 1940
Die große Flucht der Literatur.
C.H. Beck,
München 2024;
351 Seiten, 26,00 €


Das hielt Fry nicht ab. Er gründete das Emergency Rescue Committee (ERC) in den USA, das den bedrohten Emigranten helfen sollte, und reiste im August nach Marseille, um seinen Rettungsplan umzusetzen. Kontinuierlich erhöhte er die Zahl der Mitstreiter.

Dazu gehörten der promovierte Ökonom Otto-Albert Hirschmann, zuständig für das Konspirative; die reiche Erbin und Hobbypilotin Mary Jayne Gold, die enorme Summen Geldes beisteuerte; der österreichische Karikaturist Bil Spira, der benötigte Papiere fälschte; das Ehepaar Fittko aus Berlin, das, als mit Kriegsbeginn keine Schiffe mehr von Marseille nach Übersee fuhren, Fluchtrouten über die Pyrenäen erkundete, damit die Flüchtlinge von Lissabon aus Europa verlassen konnten, und viele Helfer mehr, zu denen auch französische Polizisten und spanische Grenzsoldaten zählten, die nicht so genau hinschauten.

Fry und Freunde retteten 2.000 Flüchtlinge

Am Ende wird das "Team Fry" mehr als 2.000 Flüchtlinge vieler Nationalitäten gerettet haben. Seinen Einsatz für die Menschlichkeit in Zeiten der Unmenschlichkeit dankte Fry nach dem Krieg keiner. Beruflich fasste er nie mehr Fuß. Um Geld zu verdienen, schrieb er Werbetexte für Coca Cola. Seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Eine zweite Ehe scheiterte. Mit 60 Jahren erlag er 1967 einem Gehirnschlag. Erst 27 Jahre später wurde der amerikanische Retter in der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechter unter den Völkern" geehrt.