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Kurz rezensiert : Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid

Der Medizinhistoriker Rainer Herrn über die Anfänge der modernen Sexualforschung und die Kämpfe um den Paragrafen 175.

26.09.2022
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2 Min

Der Medizinhistoriker Rainer Herrn erzählt die Geschichte einer „Institution, die wie kaum eine zweite den liberalen Geist der Weimarer Zeit repräsentierte” (Klappentext). Den roten Faden seines Buches bildet die Biografie des homosexuellen Arztes Magnus Hirschfeld, der 1919 in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft gründete. Anschaulich beschreibt Herrn die Aufbruchstimmung jener Jahre. Eine umfangreiche Bibliothek, Forschungsprojekte, Beratungs- und Therapieangebote lockten Patienten und Besucher aus der ganzen Welt an. Menschen aller Schichten konnten sich über Empfängnisverhütung oder Geschlechtskrankheiten informieren. Das Institut bekam keine öffentlichen Zuschüsse, die Ressourcen stammten vorwiegend aus dem Privatvermögen des Gründers. Hirschfeld startete politische Kampagnen gegen den Paragrafen 175, der intime Kontakte unter Männern unter Strafe stellte. Er versuchte wissenschaftlich zu belegen, dass Homosexualität angeboren sei. Herrns Buch dokumentiert dazu irritierende Details: So gab es im Institut Versuche, Hilfesuchende zu kastrieren oder ihre Orientierung durch Operationen zu verändern. Das erinnert an menschenverachtende Experimente der Nazizeit – und ist nur im zeitgenössischen Umfeld nachvollziehbar.

Unterstützung Hirschfelds durch die Sozialdemokratie

Unterstützt wurde Hirschfeld vor allem von Sozialdemokraten, seine Gegner standen im rechtsnationalen Lager oder waren Mitglieder der katholischen Zentrumspartei. Er galt als „jüdischer“ Propagandist und wurde zum Feindbild der Nationalsozialisten. Nach deren Machtübernahme flohen viele Mitarbeiter ins Ausland, wurden verfolgt oder in Konzentrationslagern ermordet. Hirschfeld selbst starb 1935 im französischen Exil. Rainer Herrns Buch macht deutlich, wie wegweisend die deutsche Sexualwissenschaft der 1920er Jahre war. Sie hatte nachhaltigen Einfluss auf internationale Fachkreise, an ihr orientierte sich später zum Beispiel der Sexualforscher Alfred Kinsey.

Rainer Herrn:
Der Liebe und dem Leid.
Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933.
Suhrkamp,
Berlin 2022;
680 S., 36 €