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Foto: picture alliance/ZB/Jens Kalaene
Literarischer Blick hinter die Kulissen der Macht: Roger Willemsen, hier im März 2012 auf der Leipziger Buchmesse, beobachtete ein Jahr lang Reden und politische Manöver von der Besuchertribüne des Bundestages.

Roger Willemsen (†) im Interview : "Selbst der Applaus kennt den Fraktionszwang"

Der 2016 verstorbene Publizist verfolgte im Wahljahr 2013 die Debatten im Bundestag. Von seinen Beobachtungen erzählt er in seinem Buch "Das Hohe Haus".

21.08.2024
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7 Min

Der Bundestag sei „das Hollywood der Politik“, schreiben Sie in ihrem Buch „Das Hohe  Haus“. Das klingt nach Spannung und Unterhaltung. War das Jahr auf der Besuchertribüne des Bundestages so spannend und unterhaltend?

Roger Willemsen: Der Bundestag ist insofern das Hollywood der Politik, als es in jedem kleinen Ortsverband einen Politiker gibt, der davon träumt, einmal in diesem Parlament zu sitzen.

Der Bundestag als Sehnsuchtsort?

Roger Willemsen: Ja! Und es war dort insgesamt sehr viel interessanter als ich geglaubt habe. Natürlich gab es auch Plenarsitzungen, in denen mir langweilig war. Auch weil ich Sachverhalte mitunter nicht verstanden habe oder weil es nur um Millimeterverschiebungen in einem Gesetzentwurf ging. Aber dann setzte ich den Fokus eben woanders hin und beobachtete eine einzelne Ministerin, ob sie dem jeweiligen Redner überhaupt zuhört. In diesen Augenblicken war ich eher vom literarischen Interesse als vom journalistischen geleitet. Insofern war es selten langweilig.

Sie haben sicherlich ihre eigenen Vorstellungen vom Bundestag mitgebracht. Hat sich dieses Bild verändert oder wurde es eher bestätigt?

Roger Willemsen: Es hat sich zu einem guten Teil bestätigt. Wir haben alle eine politische Biografie. Ich bin in Bonn aufgewachsen, wo man den Politikern räumlich näher war und wo ich mit 13 Jahren die ersten großen Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze erlebte. Auch in späteren Jahren stand ich eher der außerparlamentarischen Opposition näher. Gleichzeitig habe ich aber Parlamentsdebatten mit Spannung verfolgt, etwa beim Misstrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt. Mit Blick auf die heutigen Debatten muss ich allerdings sagen, dass ich nicht gedacht hätte, dass so viele Reden einfach nur ins Schaufenster gestellt werden und daraus so wenig echte Kontroverse entsteht. Ich habe gedacht, dass im Redekampf im Bundestag mehr zu entscheiden wäre.

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Roger Willemsen
war Publizist, Fernsehmoderator und Filmproduzent. Er starb am 7. Februar 2016 an den Folgen einer Krebserkrankung. Willemsen wurde 1955 in Bonn geboren. Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte sowie seiner Promotion über die Dichtung Robert Musils folgten Tätigkeiten als Übersetzer, Herausgeber und Autor. Dem Fernsehpublikum wurde er vor allem bekannt mit seiner Interviewreihe „0137“ auf dem Bezahlsender Premiere und seiner ZDF-Talkshow "Willemsens Woche". Zu seinen zahlreichen Publikationen gehören Bücher über Afghanistan oder seine Interviews mit ehemaligen Häftlingen des US-Gefangenenlagers Guantánamo.
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Sie zeichnen überhaupt ein durchaus kritisches Bild vom Parlamentarismus, stellen die Frage, ob der Bundestag nicht gar  das  „Leichenhaus  der  parlamentarischen Idee“ sei. Ist der Parlamentarismus in Deutschland tot?

Roger Willemsen: Nein, das ist er nicht. Frank Zappa würde sagen: Aber er müffelt. Der Bundestag muss sich über einen zunehmenden Aufmerksamkeitsverlust Gedanken machen. Das zeigt sich schon daran, dass der Dokumentationskanal Phoenix seit dem Start der Großen Koalition dramatische Einbrüche bei den Einschaltquoten erleiden musste.

Woran liegt das?

Roger Willemsen: Das beginnt schon bei einem so toten Ritual wie der Fragestunde. Auf schriftlich eingereichte Fragen folgen schriftliche Antworten, die nur noch verlesen werden. So etwas bindet zurecht keine Aufmerksamkeit. Das ist kein Schmuckstück des Parlamentarismus, wie Bundestagspräsident Norbert Lammert sagen würde. Da bin ich mit ihm einig. Zudem gibt es inzwischen so viele Entscheidungsagenturen außerhalb des Bundestages, dass bereits vom Post-Parlamentarismus gesprochen wird. Wir haben die Hinterzimmer, die Talkshows und Gerichtshöfe aller Art - sie alle übernehmen Funktionen des Parlaments. Niemand sollte klaglos zur Kenntnis nehmen, dass die großen Debatten eher in Talkshows geführt werden als im Bundestag. Ich aber hänge an der Idee einer sichtbaren parlamentarischen Demokratie. Das Parlament war doch mal gedacht als Ort, der die Regierung kontrolliert. Aber wann, so habe ich mich gefragt, hat denn zum letzten Mal der Bundestag eine Vorlage der Regierung abgelehnt? Hier sollten sich doch alle Interessen versammeln und zur Entscheidungsfindung beitragen. Aber habe ich das so eigentlich jemals erlebt?


„Niemand sollte klaglos zur Kenntnis nehmen, dass die großen Debatten eher in Talkshows geführt werden als im Bundestag.“
Roger Willemsen

Sie beschreiben die Abgeordneten durchaus differenziert. Auffällig ist  jedoch, dass die Vertreter der Regierungsparteien deutlich schlechter wegkommen als Oppositionspolitiker. Ist das deren jeweiligen Rollen geschuldet oder Ihrer persönlichen politischen Präferenz?

Roger Willemsen: Es hat mich selbst überrascht, dass ich die Positionen der Opposition so häufig überzeugender fand. Allerdings kommt auch die SPD, die 2013 ja noch überwiegend in der Opposition saß, nicht immer gut weg. Wenn ich vergleiche, was Sigmar Gabriel damals über Angela Merkel sagte und was er heute sagt, muss ich die Frage nach der Glaubwürdigkeit wohl schon gar nicht mehr stellen. Da sind eine kontinuierliche Person und parteipolitische Position kaum noch zu erkennen. Und ich kann gut verstehen, dass die Wähler nicht mehr bereit sind, dem zu folgen. Die Opposition erschien mir oftmals überzeugender, weil sie mich mit handfesten Informationen versorgte, die ich auf keine andere Weise bekommen hätte. Wenn sich beispielsweise alle Fraktionen zur Kontrolle von Rüstungsexporten bekennen, gleichzeitig aber ein Abgeordneter der Linksfraktion erklärt, dass von 17.586 Anträgen auf Rüstungsausfuhren lediglich 105 abgelehnt wurden, was hat das dann noch mit der vermeintlich äußerst restriktiven Rüstungskontrolle zu tun? Man kann eine solche Information einschätzen wie man will. Entscheidend ist aber, dass ich diese Information will und bekomme.

Ist dieses Beispiel aber nicht Beleg dafür, dass das Parlament so arbeitet wie vorgesehen? Die Opposition kontrolliert die Regierung und die Regierungsfraktionen unterstützen das Regierungshandeln.

Roger Willemsen: Durchaus - in diesem Fall hat das Liefern von Informationen durch die Opposition funktioniert. In Zukunft bekomme ich aber vielleicht nicht mehr so viele Informationen, weil die Linken und die Grünen als Opposition so klein sind. Und wenn es um konkrete Entscheidungen geht, wird doch alles von der Linksfraktion à priori abgelehnt. Selbst wenn sie einen Antrag einbringt mit dem Titel „Syrische Flüchtlinge nicht im Stich lassen“ – ein Satz, dem doch wahrscheinlich 90 Prozent der Deutschen zustimmen würden. Ich habe wirklich versucht, unvoreingenommen zu sein. Die beste Rede, die ich gehört habe, war die des CDU-Abgeordneten Matthias Zimmer über die Grenzen des Wachstums. Eine Rede, die aus den eigenen Reihen weitgehend unbeklatscht blieb. Selbst der Applaus kennt einen Fraktionszwang.


Roger Willemsen:
Das Hohe Haus.
Ein Jahr im Parlament
Taschenbuch
S. Fischer Verlag,
Frankfurt/M. 2015;
432 Seiten, 13,00 €


Der Fraktionszwang stehe der „reinen Form der parlamentarischen Idee“ entgegen, schreiben Sie. Ist er auch eine Folge medialer Berichterstattung, die aus jeder abweichenden Meinung eine Partei- oder Regierungskrise macht?

Roger Willemsen: Das glaube ich tatsächlich. Journalisten wären gut beraten, auch mal einen originellen Text zu schreiben, in dem steht: Die Partei ist sich uneins - Hurra! Wenn wir von der Freiheit der Abgeordneten und seiner Verpflichtung gegenüber dem Gewissen sprechen, dann müssten wir abweichende Meinungen doch wertschätzen. Mir ist natürlich klar, dass ein Abgeordneter auch eine Loyalitätspflicht gegenüber seiner Partei hat, die ihn für die Wahl aufgestellt hat. Aber die Frage ist, ob das bis zum Kadavergehorsam gehen soll.

Das  eigentliche Ringen um Gesetze und Entscheidungen im Bundestag findet meist statt in den Fraktionen und den Ausschüssen. Ist eine Bewertung des Parlamentarismus möglich, wenn man sich auf das Plenargeschehen konzentriert?

Roger Willemsen: Ich wollte mich ja ganz bewusst auf das konzentrieren, was die Bürger sehen können. Insofern wäre mir ein Zugang zu den nichtöffentlichen Ausschüssen gar nicht so recht gewesen. Ich glaube aber, dass aus der Perspektive von der Zuschauertribüne sehr viel sichtbar ist. Es ging mir ja auch um eine philologische Analyse der Plenarreden und um die kleinen Dramen oder die kleinen Momente der Rührung, die von den Fernsehkameras nicht eingefangen werden.


„Die Rhetorik verrät viel über Haltung oder über moralische Fragen.“
Roger Willemsen

Teilen Sie die Einschätzung, dass die Politik einen nichtöffentlichen Raum braucht, um Entscheidungen jenseits öffentlicher Erregungskurven diskutieren zu können?

Roger Willemsen: Ich teile sie insofern, weil sich automatisch andere nichtöffentliche Räume konstituieren würden, wenn in den Ausschüssen Kameras aufgebaut werden. Transparenz ist zwar ein viel beschworener Wert, lässt sich aber wohl nie in Gänze herstellen. Das heißt aber nicht, sich damit zufrieden zu geben, dass Reden im Plenum einfach nur noch abgestellt werden in der Hoffnung, dass sich jemand dafür interessiert. Auch damit zieht sich der Bundestag letztlich ins Unsichtbare zurück und bestätigt gängige Vorurteile. Das Parlament muss sich schon fragen, ob es sich und seine Arbeit nicht anders definieren will.

Sie bewerten die Qualität der Parlamentsdebatten ohne dabei in die Tiefen des jeweiligen politischen Themas zu steigen. Ist es ein redliches Vorgehen, sich vor allem an der Rhetorik von Abgeordneten abzuarbeiten?

Roger Willemsen: Die Rhetorik verrät viel über Haltung oder über moralische Fragen. Deshalb möchte ich das von Debatte zu Debatte bewerten können. Nehmen sie einen Plenartag, an dem früh morgens über Rüstungskontrolle gesprochen wird und spät abends über einen Antrag aus dem Petitionsausschuss, in dem die Eintragung von sogenannten Sternenkindern mit Namen in das Personenstandsregister gefordert wird, statt sie wie bisher als Fehlgeburten zu bezeichnen. An ein und dem selben Tag wird das nackte Leben verbal wie Schwund behandelt, wenn es um Rüstungsexporte geht, und im anderen Fall wie ein Sakrament, wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht. Mir war es wichtig darzustellen, wie völlig unterschiedlich sich der Gefühlshaushalt im Parlament darstellt. Natürlich erzeugt meine Perspektive auch Fehler, weil ich bewusst auf Hintergrundrecherchen verzichtet habe. Aber ich fände es gut, wenn sich jedes Jahr ein Literat auf die Zuschauertribüne des Bundestages setzt und einen quasi exterritorialen Blick auf das „Hohe Haus“ wirft.

Wie haben die Parlamentarier selbst auf ihr Buch reagiert? Eher mit Entsetzen oder wurden ihre Beobachtungen auch bestätigt?

Roger Willemsen: Eher letzteres. Ich hatte mich auch auf starken Widerstand aus den Parteien eingerichtet. Das war aber nicht der Fall. Politiker haben ein dickes Fell wenn es um die öffentliche Kommentierung ihrer Arbeit geht. Und die Parlamentarier verfahren untereinander sehr viel härter miteinander als ich es je hätte tun können.

Das Interview mit Roger Willemsen erschien am 7. Juli 2014 in "Das Parlament".