Weltmeisterschaft 1974 : So viel mehr als nur ein Fußballbuch
Ronald Rengs neues Buch über die historisch einmalige Begegnung zweier deutscher Fußballnationalmannschaften zeichnet ein mitreißendes Epochen-Porträt.
Ein ganzes Buch nur über Fußball? Mehr als 400 Seiten über sogar nur ein einziges Spiel? Ja, im Zentrum von Ronald Rengs "1974. Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte" steht das historisch einmalige Zusammentreffen der Fußball-Nationalmannschaften zweier Deutschlands, der DDR und der Bundesrepublik. Das fand statt im Rahmen der Weltmeisterschaft, am 22. Juni 1974 im Volksparkstadion in Hamburg. Rengs mitreißend geschriebenes Buch ist aber unendlich viel mehr als nur ein Fußballbuch.
Mit Neugier, Akribie und einem untrüglichen Sinn für Interessantes, Kurioses und Zeittypisches begibt sich Reng auf die Spuren von Menschen, für die dieser Tag dieses Fußballspiel in der einen oder anderen Weise ein besonderer Tag war.
"Eine Büroklammer im deutschen Gedächtnis"
Was dabei entsteht, ist ein kaleidoskopartiges, vielfarbig schillerndes Bild der 70er Jahre, das Porträt eines aufregenden Jahrzehnts. Das deutsch-deutsche Fußballspiel war kein Nine-Eleven-Ereignis, aber schon so etwas wie "eine Büroklammer im deutschen Gedächtnis, die all die geschichtlichen Ereignisse und den Alltag jener Zeit zusammenhält", sagt Reng. Den Terror der RAF, den Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt (SPD), nachdem ein Spion der DDR im Kanzleramt aufgeflogen war, "Gastarbeiter", die zu Bürgern wurden, Frauen, die erstmals ohne Zustimmung des Mannes arbeiten durften.
"Es gab dieses Spiel ein einziges Mal in der Geschichte, ist also per se schon ein großes Ereignis, sagte Reng bei einer Lesung des Buches. "Es war eine spannende Zeit. Es gab zum ersten Mal eine Entspannungspolitik zwischen den beiden Staaten. Gleichzeitig war es in der Bundesrepublik eine aufgewühlte Zeit, hochpolitisiert. 91 Prozent Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl, das gab es nie mehr wieder. Und in der DDR fand der einzige Machtwechsel statt in der Geschichte des Staates - von Ulbricht zu Honecker."
Ronald Reng:
1974. Eine deutsche Begegnung.
Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte.
Piper, München 2024;
432 Seiten, 24,00 €
Zu Rengs langer Liste spannender Protagonisten gehört der ehemalige RAF-Terrorist Klaus Jünschke, der beschuldigt wurde, ein Raketen-Attentat auf das Spiel zu planen. Reng erzählt die Geschichte der Sportjournalisten aus Ost (Horst Friedemann) und West (Hans Eberle). Er folgt den DDR-Spielern Gerd Kische und Jürgen Croy, die sich nach dem Spiel aus dem Hotel schlichen und von Zivilpolizisten auf die Reeperbahn fahren ließen.
Auf den Spuren von Doris Gercke, Roland Jahn und Jürgen Sparwasser
Er erzählt die Geschichte von Doris Gercke, die damals als DKP-Mitglied Reiseführerin der DDR-Fußballtouristen war und später als Krimi-Autorin mit der Erfindung der Figur "Bella Block" berühmt wurde. Er verfolgt den Weg Roland Jahns, des Dissidenten und späteren Beauftragten für die Stasi-Unterlagen, der mit Spielern der DDR-Auswahl gekickt hatte. Er lässt die Schauspielerin Jutta Wachowiak erzählen, die am 22. Juni 1974 in einem Stück im Berliner Ensemble spielte, von dem man sich fragte, wie es die Zensur passieren konnte: Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W".
Das Spiel übrigens gewann nicht der haushohe Favorit, sondern das Team der DDR. Durch ein Tor, das den Schützen, Jürgen Sparwasser, unsterblich machte. Natürlich erzählt Reng auch, was aus ihm wurde.