Robert Claus zur Euro 2024 : "Fußball ist nie nur ein Ballsport"
Nach Ansicht des Forschers ist der Fußball in Deutschland deutlich vielfältiger geworden. Doch in den Präsidien dominierten weiter die mächtigen weißen Männerbünde.
Herr Claus, nach 18 Jahren findet wieder ein großes Turnier in Deutschland statt. Der Deutsche Fußballbund versucht viel, um eine Art "Sommermärchen 2.0" zu pushen. Werden wir in diesem Sommer wieder eine so begeisterte Stimmung wie bei der Weltmeisterschaft von 2006 erleben?
Robert Claus: Den Wunsch nach einem sportlich-spaßigen Fußballsommer kann ich persönlich gut nachvollziehen. Doch wir sollten darauf schauen, was unter dem Begriff Sommermärchen eigentlich verstanden wird. Ich sehe gewisse Parallelen, beide Turniere fanden und finden im Umfeld politischer und sportlicher Krisen statt. 2006 waren kurz zuvor die Hartz-Gesetze unter großen Protesten beschlossen worden. Zum anderen gab es eine große sportliche Krise, das Herren-Nationalteam war bei der Euro 2004 bereits in der Gruppenphase gescheitert. Das Erreichen des Halbfinales bei der WM im eigenen Land löste dann große Begeisterung aus. Auf der Bühne solcher Großevents wird stets auch ein gesellschaftliches Selbstverständnis verhandelt. Damals präsentierte sich ein weltoffenes und post-nationalsozialistisches Deutschland, allerdings war die NS-Vergangenheit relevanter Fußballorganisationen zu diesem Zeitpunkt erst ungenügend aufgearbeitet. Und es gab einen Anstieg rassistischer Gewalt während des Turniers.
Was bedeutet das für die Euro 2024?
Robert Claus: Die Stimmung hängt immer stark vom sportlichen Erfolg des Gastgeber-Teams ab. Fußball ist zu einer zentralen Bühne für gesellschaftspolitische Konflikte geworden. Im kulturellen Rahmenprogramm der EM präsentieren sich viele Projekte, die Vielfalt fördern und sichtbar machen wollen - andererseits werden nicht-weiße Nationalspieler manchmal immer noch rassistisch angefeindet. Der Pride Month der LGTBIQ-Szenen findet fast parallel zum Turnier statt, während extrem rechte Akteure ihre Gegenkampagne unter dem Titel "Stolz Monat" in Nationalfarben betreiben. Die Frage, wie vielfältig und offen Deutschland ist, wird in diesem Sommer nicht zuletzt über den Fußball verhandelt.
Bei den Fans gibt es eine tiefe Sehnsucht nach der guten alten Zeit, nach weniger Kommerz. Zuletzt zu besichtigen war das bei den Tennisbällen, die gegen den Einstieg von Investoren in die Deutsche Fußball Liga auf den Rasen flogen...
Robert Claus: In früheren Jahrzehnten war der Fußball weitaus weniger durch Erwartungen an gesellschaftliche Verantwortung geprägt. Im Rückblick traurig-berühmt wurde das Beispiel, dass die (west-)deutsche Nationalmannschaft bei der WM 1978 in der Nähe eines Gefängnisses gastierte, in dem Oppositionelle von der argentinischen Militärjunta gefoltert wurden - damals geriet das nicht zum Skandal. Den Fanprotesten der vergangenen Jahre geht es vor allem um Teilhabe und eigene Wirkmächtigkeit, also um grundlegende Erfahrungen in einer funktionierenden Demokratie. Im kommerzialisierten Fußball machen die Fans ständig demütigende Erfahrungen der Nicht-Beteiligung, Sponsoreninteressen werden meist stärker gewichtet. Die Tennisbälle waren ein eskalierender Versuch, ihre Interessen massiv einzufordern. Hier unterscheiden sich die Fanszenen des Fußballs von Fankulturen in anderen gesellschaftlichen Bereichen: Viele Ultras wollen die Spiele nicht nur spaßvoll konsumieren, sondern vor allem den eigenen Verein aktiv mitgestalten.
Im Frühjahr sorgte ein neues Trikot des DFB für Kritik. Vor allem im Netz hieß es, mit seinen Pinktönen sehe es zu weiblich aus...
Robert Claus: Offenbar fühlte sich ein Teil der Anhängerschaft in seinem sehr traditionellen Verständnis von Männlichkeit gestört. Solche Einwürfe haben im Fußball eine längere Geschichte. Es gab sie schon, als Profis in den 1990er Jahren begannen, vermehrt bunte Schuhe zu tragen und auch, als mancher Kapitän in der Bundesliga eine Regenbogenbinde anlegte. Beides hat sich letztlich aber durchgesetzt. Und der Sportartikelhersteller Adidas meldete kurz nach Verkaufsstart, dass das pinke Trikot das bestverkaufte Auswärtstrikot in der Geschichte des DFB sei. An dem Beispiel wird deutlich, dass Fußball nie nur ein Ballsport ist. Für Teile der Gesellschaft symbolisiert er nationale Stärke und Männlichkeit.
Pretty in pink? Die neuen Auswärtstrikots der Nationalelf für die Fußball-Europameisterschaft der Männer bewegen die Gesellschaft.
In die Stadien kommen mehr weibliche Fans als früher, im Fernsehen wird dem Frauenfußball mehr Platz eingeräumt. Er gilt als ehrlicher und weniger kommerziell, manche sprechen sogar von einer Feminisierung der Sportart. Sehen Sie das auch so?
Robert Claus: Ich sehe Tendenzen, dass sich der Fußball seit Jahren für mehr geschlechtliche und sexuelle Vielfalt öffnet. Das zeigt sich nicht allein im Wachstum des Frauenfußballs. Belege sind auch das jahrelange Engagement der "Fußballfans gegen Homophobie" in den Stadien, die Wanderausstellung "fan.tastic females" oder die Einrichtung einer Kompetenz- und Anlaufstelle beim DFB zum Thema. Der Deutsche Fußballbund hat 2022 als einer der ersten Verbände weltweit eine Regelung zum Spielrecht für trans-, inter- und nonbinäre Personen entwickelt. Gleichzeitig zeigen sich einige Bereiche des Fußballs enorm beharrungsfähig: Bis heute sind die Leitungsebenen und Präsidien sehr wenig divers, die machtvollen weißen Männerbünde gibt es nach wie vor.
Was halten Sie von der Forderung nach "Equal Pay" im Profifußball? Ist das nicht einfach eine ökonomische und keine gleichstellungspolitische Frage? Zugespitzt formuliert: Der Männerfußball ist ein Milliardengeschäft mit den entsprechenden Gehältern, der Frauenfußball trotz aller Fortschritte immer noch eher eine Randsportart...
Robert Claus: Männer- und der Frauenfußball agieren heute auf der Basis sehr ungleicher Voraussetzungen. Wir sollten nicht vergessen: Den Spielbetrieb der Frauen hat der DFB von 1955 bis 1970 verboten. Der Fußball hat also 15 Jahre lang aus geschlechterideologischen Gründen auf das Wachstum dieser weiblichen Sportart verzichtet. Letztlich unterstütze ich die Forderung nach Equal Pay, jedoch macht sie nur verbunden mit der Forderung nach Equal Investment Sinn. Dabei geht es um die nachholende und weiterführende Professionalisierung des Frauenfußballs, seines Personals und der Infrastruktur.
In manchen Fankurven hängen homofeindliche Banner, begleitet von den entsprechenden Gesängen. Was tun die Verantwortlichen dagegen?
Robert Claus: Homofeindliche Schmähungen sind immer noch etablierter Teil einer fußballspezifischen Beschimpfungskultur. Die Kulturwissenschaftlerin Almut Sülzle hat das Stadionerlebnis als karnevaleske Sonderwelt beschrieben. Die emotional aufgeladene Konfliktsituation des Fußballspiels forciert solches Verhalten auch bei Menschen, die sich sonst nicht so benehmen. Aber wir müssen auch sehen, wie viele Ultragruppen den vorgegebenen Konsens vertreten, sich nicht diskriminierend im Stadion zu äußern. Die Fanszenen haben sich stark ausdifferenziert, und entsprechende Vorfälle werden auch vom DFB bestraft.
Gibt es Unterschiede zwischen den Vereinen im Umgang mit dem Thema Diskriminierung? Haben Sie ein Beispiel für vorbildliche Präventionsarbeit?
Robert Claus: Borussia Dortmund etwa hat in den 2010er Jahren einen weiten Weg hinter sich gebracht. Um gegen die Dominanz extrem rechter Hooligans und gegen Diskriminierung vorzugehen, hat der BVB Workshops mit Fans und Tagungen zum Thema Zivilcourage durchgeführt - und begonnen, Vielfalt in seiner Anhängerschaft zu fördern. Andere Proficlubs wie der FC St. Pauli oder Werder Bremen machen dies schon länger. Hinzu kommt die professionelle Arbeit von über 70 sozialpädagogischen Fanprojekten. Es gibt Diversity-Beratungsagenturen, engagierte Amateurvereine und Bildungseinrichtungen. Einige von ihnen wurden mit dem Julius-Hirsch-Preis des DFB ausgezeichnet, viele wirken am jährlichen Aktionsspieltag des Netzwerkes "Nie Wieder!" mit.
Wie groß ist der Fußball in Deutschland? ⚽️
👨👩👧👦 In den 24.154 Fußballvereinen in Deutschland sind rund 7,36 Millionen Menschen organisiert (Stand: 2023). Dies entspricht rund 8,8 Prozent der Gesamtbevölkerung.
👟 In 135.292 Junioren-, Amateur- und Profi-Teams kicken insgesamt rund 2,23 Millionen Spieler und Spielerinnen. Auf die Junioren entfallen 87.790 Mannschaften.
👩 Es gibt 4.823 Mädchen- und 4.311 Frauen-Mannschaften.
Vor Jahren hat sich der frühere Nationalkicker Thomas Hitzelsberger als homosexuell geoutet - allerdings erst nach dem Ende seiner Karriere. Warum traut sich das kaum ein Profi?
Robert Claus: Das müsste man die Spieler fragen. Ich glaube, dass große Teile der Fanszenen und Gesellschaft deutlich weiter sind, als es manche Stereotypen über Fußball und Fankultur vermuten lassen. In Gesprächen mit Spielern wird allerdings oft deutlich, welch traditionellen Geschlechterrollen in den Führungsetagen des Fußballs vorherrschen. Spieler bräuchten also die aktive Unterstützung von Sportdirektoren, Trainern, Managern und Beratern.
Sie haben ein Buch über Hooligans geschrieben. Handelt es sich um ein homogenes Milieu, das althergebrachte Männlichkeiten und patriarchale Werte ungebrochen hochhält?
Robert Claus: In diesem Umfeld herrscht ein sehr klares Verständnis von Männlichkeit, in dessen Zentrum steht der gewalttätige Wettbewerb mit anderen Hooligans. Es geht stets darum, sich zu messen. In der Szene gilt nicht derjenige als schwach, der einen Kampf verliert, sondern derjenige, der gar nicht erst antritt. In den sozialen Medien des Internets wird dieses Verständnis von Männlichkeit regelmäßig inszeniert.
Wie hoch ist die Gewaltbereitschaft in dieser Szene?
Robert Claus: Sehr hoch. Hooligans definieren sich über die Gewalt, trainieren ihre Gewaltkompetenzen im Kampfsport und haben diverse Formate für ihre Kämpfe entwickelt. Denn es gibt ja nicht nur Randale in den Stadien, sondern zum Beispiel auch sogenannte "Ackermatches", wo zwei meist gleich große Teams weitgehend regelfrei an einem entlegenen Ort gegeneinander antreten. Es handelt sich tendenziell um Gruppenkampfsport.
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Trotz der Erfolge migrantischer Spieler ist Rassismus noch immer ein Problem in den Fußballstadien. Die Gründe reichen bis in die Kolonialzeit zurück.
Die iranisch-deutsche Journalistin Gilda Sahebi hat sich auf die Spuren des Rassismus in Deutschland gemacht. Dieser sei gesellschaftlich erlernt.
Gibt es Verbindungen zur extremen Rechten?
Robert Claus: Hooliganismus und militanter Neonazismus sind zwar nicht deckungsgleich, weisen aber große Schnittmengen auf. Beide Szenen teilen ein sehr ähnliches Männlichkeitsideal und das Interesse an Gewalt. So ist der Hooliganismus seit Jahrzehnten eines der wichtigsten Rekrutierungsfelder für militante Neonazis. Und generell steht die Hooliganszene zu großen Teilen sehr weit rechts.
In der Vergangenheit kam es anlässlich großer Fußballturniere immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen, von deutschen Hooligans ausgehend etwa im nordfranzösischen Lens. Rechnen Sie mit solchen Vorfällen auch bei der Europameisterschaft?
Robert Claus: Da mehrere Länder teilnehmen, in denen größere Hooligan-Szenen agieren, Beispiele sind etwa Polen, Kroatien und Ungarn, lässt sich das zumindest nicht ausschließen. Doch ist das nicht die einzige Gefahr für das Turnier. Denn extrem rechte Akteure - von Neonazis bis hin zur AfD - agitieren seit Jahren gegen die Vielfaltsmaßnahmen im Fußball und die Tatsache, dass "Player of color" mittlerweile Normalität in den deutschen Auswahlteams sind. Rassistische Shitstorms und Kampagnen aus diesem Spektrum, insbesondere im Fall eines sportlichen Misserfolgs, sind also zu befürchten und ernst zu nehmen.